Donnerstag, 31. Dezember 2009

Gelingendes Leben

"Aber heute fürchte ich nichts, heute zeige ich mich freimütig, schutzlos dem Tag, mache die Demutsgebärde des angegriffenen, schwächeren Wolfs, zwinge den Übermächtigen zur Großmut und wage, mich zu freuen, weil der Morgen frisch und bitter riecht, weil der Himmel makellos ist, weil eine späte rote Rose aufgeblüht ist am schon verdorrenden Busch, weil ich den Tod nicht scheue, weil ich lebe, weil ich auf eine Art lebe, die nur ich weiß und kann, ein Leben unter Milliarden, aber das meine, das etwas sagt, was kein anderes sagen kann. Das Einmalige eines jeden Lebens. Es macht heiter, zu wissen, dass jeder Recht hat mit sich selbst. Schön ist es, älter zu werden, erlöst von sich, von der gewaltigen Anstrengung, etwas zu werden, etwas darzustellen in dieser Welt. Gelassen sich einfügen, irgendwo, wo gerade Platz ist, und überall man selbst zu sein und zugleich weiter nichts als einer von Milliarden. Dies alles, in vielen Worten gesagt, dauert zu fühlen drei, vier Atemzüge lang."

Luise Rinser

Sonntag, 20. Dezember 2009

Im Krankenhaus. Wenn Seele und Geist weggeschickt werden.

Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert in Krankenhäusern. Da ihr Arzt das Krankenhaus am Sonntag darüber informiert hatte, dass sie kommen würde, war alles vorbereitet. Sie musste nur ihre Plastikkarte abgeben. Das war gewissermaßen der Eintrittsschein in die Welt der medizinischen Versorgung. Von da an war sie ein „Fall“. Eine Patientin, die medizinisch betreut und versorgt wurde.

Da sie niemand kannte, und in dem großen Gefüge eines Krankenhauses mit all seinen Abläufen die menschliche Zuständigkeit ständig wechselte, wurden jede Menge Datenaufkleber gedruckt. Für die diversen Akten und Schriftstücke, für Laboruntersuchungen und alles weitere, was sie betraf. Die Etiketten mit ihrem Namen verteilten sich in alle Richtungen des großen Gebäudekomplexes.

Die neue Patientin war ein hinzugekommenes Rädchen im Getriebe. Nichts sollte verwechselt werden. An dieser Stelle ging es ganz explizit um physische Individualität. Auch an das Bett der neu Aufgenommenen wurde ein Schild mit ihrem Namen gemacht und selbst um ihr Handgelenk wurde ein Bändchen gelegt, auf welchem Name und Geburtsdatum zu lesen waren.

(Wie gut, dass kein Bändchen um einen Zeh ihres Fußes gelegt wurde. Später hörte sie, dass man das in amerikanischen Filmen bei Verstorbenen so sehen kann.)

Über das Namensbändchen war sie irritiert. Ob die Schwestern wohl meinten, dass sie selbst vergessen könnte, wer sie sei? Nachdem sie aus der Narkose nach der OP wieder erwachte, bemerkte sie, dass eine Schwester das Bändchen an ihrem Arm verstohlen abriss. Das brauche man nun nicht mehr, sagte sie, denn nun könne die Patientin sich ja selber wieder artikulieren. Die OP war also gut verlaufen – sie wusste nicht viel darüber, was die Ärzte konkret getan hatten – nein, sie wusste es nur so ungefähr. Und einen Moment Zeit, dass man es ihr hätte in Ruhe erklären können – den gab es wohl nicht. Sie war wach, lag still in ihrem Bett und wartete ab.

Um gesund zu werden wird ein Patient in einem Krankenhaus um zwei Dinge gebeten. Einerseits um totale Hingabe. Übergabe und Vertrauen in das, was Ärzte wollen und einfach tun. Und andererseits um einen kritischen Geist. Mitdenken, nachfragen, nicht locker lassen. (Ja, was sie nicht alles unterschreiben musste!) Eben das Gegenteil von Hingabe. Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen liegt der goldene Mittelweg. Weder das eine noch das andere funktioniert in seiner Reinform. Gerade das, worum implizit gefragt wird, ist eine menschliche Mitte, die den Körper, die Seele und den Geist mit einbezieht. Diese Mitte in einem Krankenhaus zu bewahren, ist gar nicht so einfach.

Eine Nacht wird normalerweise von Stille und Dunkelheit getragen. Auch im Krankenhaus kommt zu später Stunde so langsam Ruhe auf und es wird dunkler. Aber eben nicht ganz. Auf der einen Seite ist es still, schwer und dunkel und auf der anderen Seite bleibt es unruhig. Die nächtlichen Stunden werden von Geräuschen und stoisch aufblinkenden kleinen Lichtern durchzogen, sowie von einer unablässigen und unklaren Unruhe und Bewegung durchströmt. Es ist gerade so still, dass jedes Geräusch zu hören ist. Eine Stimme auf dem Flur. Türen, die auf und zu gemacht werden. Ein Klingelknopf, der in einem anderen Zimmer getätigt wird. Betten, die verschoben werden. Patienten, die neu eingeliefert werden. Ein leises Klappern – schlicht, jede kleine Bewegung ist in der Stille der Nacht hörbar, wenn man nicht schläft.

Als sie, zu nächtlicher Stunde nach Baldrian oder einem Beruhigungstee fragte, bot man ihr Valium an. Das dürfe sie ruhig nehmen – dann könne sie sicher schlafen. Etwas anderes gäbe es nicht. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte sich nicht noch einmal so abgeben, so verlieren, sich selber so verlassen wie bei der Narkose. Nein, und wenn sie die Nacht wach bleiben würde, Valium wollte sie nicht nehmen.

Sie war keine 24 Stunden im Krankenhaus. Wie viele zuständige Schwestern oder Ärzte in dieser Zeit an ihr Bett traten, konnte sie nicht erinnern. Sie weiß noch, dass es einen Zeitraum gab, da in sehr kurzen Abständen ihr Puls, ihr Blutdruck und ihre Temperatur gemessen wurden. All das wurde in Akten abgelegt. Was es zu bedeuten hatte – das wusste sie nicht. Alles schien irgendwie normal zu sein. Aber für sie war alles neu, fremd und nicht vertraut. Sie war noch nie operiert worden.

Physisch nahm alles seinen Gang. Komplikationslos. Da sie am Morgen zwar die Erlaubnis erhielt zu duschen, ihr aber kein Handtuch angeboten wurde - denn sie selbst hatte keins dabei, weil sie ja gar nicht darauf eingestellt war, über Nacht dortzubleiben - beschloss sie, das Krankenhaus so zu verlassen. Ungeduscht. Nur weg. Zurück auf bekanntes Terrain. Dort gesund werden. Als sie nach dem Frühstück zurück an ihr Bett kam, lag da der Entlassungsbrief - das hieß, dass sie gehen konnte.

Wie verlässt man ein Krankenhaus? Geht man einfach? Oder gibt es jemanden, dem man die Hand geben konnte? Der explizit wissen sollte, dass man geht? Schließlich war doch auf physischer Ebene einiges passiert. Die Tagschwestern waren erst seit kurzem im Dienst und hatten - bis auf „Messungen“ - noch gar nicht mit ihr gesprochen. Der Arzt hatte sein Okay zur Entlassung gegeben, war aber längst in anderen Zimmern verschwunden. Sie „kannte“ niemanden, ging aber trotzdem zu einer der jungen Frauen in weißem Kittel und gab ihr die Hand um Auf Wiedersehen zu sagen.

Ein Aufenthalt in einem normalen Krankenhaus bedeutet, dass alles getan wird, was auf physischer Ebene zu tun ist, um Gesundheit zu erlangen. Seele und Geist werden aber durch eine Narkose explizit weggeschickt, ja verbannt. Sie brauchen dann Zeit, um sich langsam wieder anzunähern. Denn sie gehören zur Gesundheit des Menschen dazu. An diesem Erlebnis wurde ihr sehr deutlich, was es hieß, wenn man sich nur um eine Ebene - die physische - des Menschen kümmert.

Die Seele hätte eine Chance gehabt mitzukommen, wenn auf der menschlichen Ebene etwas mehr Anteilnahme genommen worden wäre. Ganz abgesehen vom Geist, der die Geschehnisse erst in einen größeren Zusammenhang bringen musste, um irgendwie mitzugehen. Zu wünschen ist, dass eines Tages auch die „normalen“ Krankenhäuser daran denken, dass der Mensch nicht nur aus physischer Materie besteht.

Um gesund zu werden ist sie nun dabei, neben der physischen Genesung, auch seelisch und geistig wieder eins zu werden.

Sonntag, 6. Dezember 2009

Novellen. Der Falke aus Florenz

Boccaccio (1313-1375) war der erste Gelehrte an der neugegründeten Universität in Florenz, der öffentlich über die „Göttliche Komödie“ von Dante (1265-1321) sprach. Er war, mit seinem Dichter-Freund Petrarca (1304-1374), ein großer Dante-Freund und -Kenner. Boccaccio war ein Erzähler und Humanist der ersten Stunden, in der erwachenden Renaissance in Florenz.

Nachdem 1348 die Pest in Florenz ihr Unwesen getrieben hat (und in Prag die erste deutsche Universität eröffnet wurde) begann Boccaccio das „Dekamerone“ zu schreiben. Angelehnt an die „Göttliche Komödie“ mit ihren einhundert Gesängen, schuf er einen Novellenzyklus aus einhundert Erzählungen.

Die Rahmenhandlung des Dekamerone erzählt vom pestverseuchten Leben in der Stadt am Arno – und gehört auch heute noch zu den wenigen brauchbaren dokumentarischen Berichten über diese Unglückszeit. Drei junge Männer und sieben junge Damen treffen sich in der Kirche Santa Maria Novella - von dort nimmt die Binnenhandlung, nehmen die „Novellen“ oder auch „Neuigkeiten“ ihren Ausgangspunkt - und beschließen gemeinsam aufs Land zu ziehen, um der Ansteckungsgefahr zu entgehen.

Sie ziehen Richtung Fiesole in ein Landhaus. Auch heute, siebenhundert Jahre später, steht das Gebäude noch da – an der Via Boccaccio – und beherbergt eine Fakultät der Europäischen Universität (!). Damals war es ein verwaistes aber intaktes Landhaus, in das die Gruppe der Überlebenswilligen geflüchtet ist, um die Zeit miteinander zu verbringen.

Eine Funktion des Erzählens ist es schon immer, sich die Zeit auf angenehme, aufregende, lustvolle, interessante oder bereichernde Weise zu vertreiben. Und so beginnt auch diese Gruppe junger Florentiner sich dort in der Diaspora Geschichten zu erzählen. Jeder Tag wird durch eine „Königin“ oder einen „König“ bestimmt. Sie geben jeweils ein Thema vor. Und jeder der zehn Beteiligten erzählt dann im Verlaufe eines Tages – am Morgen, in der glühenden Hitze des Nachmittags oder in der Dunkelheit des Abends, vor oder nach dem Essen, im Haus, im Garten oder am Fluss - eine Geschichte zum Thema. So entstehen im Laufe von zehn Tagen einhundert Erzählungen: einhundert Novellen eben. Das Dekamerone – das Zehntagewerk.

Wer alte Erzählungen mag, findet in diesem Novellenzyklus sicher die eine oder andere wunderbare Geschichte. Eine von ihnen hat besondere Aufmerksamkeit erlangt, es ist die sogenannte Falkennovelle, die 9. Novelle des 5. Tages. Sie ist, wenn es nach Paul Heyse geht, konstituierend für die Novelle an sich.

Wie definiert man eine Novelle? Im Gegensatz zu einer Kurzgeschichte oder zu einem Roman? Wo fängt eine Novelle an, wo hört sie auf, wo sind ihre Grenzen? Lyrik und Dramatik lassen sich deutlich definieren, aber innerhalb der Epik gibt es einige unscharfe Ränder. Die Form lässt sich nicht eindeutig festlegen. Deshalb hat der deutsche Dichter Paul Heyse (1830-1914 in München) auf den Inhalt verwiesen. Er nennt eine Erzählung dann eine Novelle, wenn sie symbolisch „einen Falken“ aufweist.

In Florenz lebt ein Edelmann namens Federigo. Er liebt Monna Giovanna und richtet ein Fest nach dem anderen aus, um ihre Gunst zu erlangen. Er stiftet sein ganzes Vermögen, um ihr Geschenke und seine Aufwartung zu machen. Sie aber erhört ihn nicht. Sie heiratet einen anderen, einen reichen Kaufmann, und bekommt mit ihm einen Sohn. Federigo ist mittlerweile einsam und verarmt, er hat nur noch einen einzigen Falken und lebt in einem kleinen Landhaus nahe Florenz. In seinem Herzen liebt er noch immer Monna Giovanna.

Als Monna Giovannas Ehemann stirbt, zieht auch sie aufs Land, in die Nähe des kleinen Gutes von Federigo. Aber erst zu dem Zeitpunkt, als Monna Giovannas Sohn erkrankt, und sich, um zu genesen, von ganzem Herzen den prächtigen Falken von Federigo zum spielen wünscht, geht sie zu ihm - die ihn vorher nie beachtet hat. Federigo ist erstaunt und beglückt. Monna Giovanna will bei ihm speisen. Da Federigo nichts anderes als seinen Falken besitzt, dreht er ihm kurzerhand den Hals um, und serviert ihn seiner geliebten Dame.

Erst nach dem Essen offenbart die Mutter des kranken Knaben, dass sie gekommen sei, um um den Falken zu bitten. Federigo ist untröstlich – endlich hat er die Aufmerksamkeit seiner Dame, und nun kann er ihr nicht dienen. Den Falken haben sie bereits gemeinsam verspeist. Monna Giovanna kehrt erschüttert zu ihrem Sohn zurück, nachdem sie den Falken von Federigo nicht erhalten konnte. Ihr Sohn stirbt. Und sie erwacht und erkennt, wem sie in Federigo begegnet ist. Nach einer angemessenen Trauerzeit heiraten die beiden und Federigo wird wieder ein reicher und geachteter Bürger von Florenz.

Soweit die humanistische Erzählung von Boccaccio aus der Renaissance in Florenz.

Nicht jede Novelle, die seitdem geschrieben wurde, endet in dieser Weise klassisch. Wenn aber jede gute Novelle so einen „Falken“, so eine „unerhörte Begebenheit“ (wie es Goethe nennt), so einen delikaten Wendepunkt aufweist, dann sind die Erzählungen alles andere als alt und märchenhaft, sondern modern und riskant und unüberschaubar. Ein Scheitern wird nicht ausgeschlossen und die Stringenz, Treue und Naivität, die Federigo an den Tag legt, wünsche ich manch einer literarischen Gestalt, die sonst noch durch die Weltliteratur spaziert.

Boccaccio, dem alten Italiener, gebührt, ob seines Novellenzyklus‘, noch heute ein Platz in der Weltliteratur. Den Mut zu einer Renaissance - nicht nur in der Literatur - der symbolischen Wiederauferstehung des Falken zwischen Federigo und Monna Giovanna , könnten wir, in jeder Hinsicht, heute in Mitteleuropa wieder gut gebrauchen. Vielleicht spielt die Europäische Universität - in der Via Boccaccio zwischen Florenz und Fiesole - dabei eine Rolle. Einen würdigen Ort hat sie ja gefunden, auch Pico della Mirandola (1463-1494) hat - einhundert Jahre später - in jenen Gefilden seine 900 Thesen geschrieben.

P.S. Warum nur hat Lorenzo di Medici 1473 die Universität von Florenz nach Pisa verlegen lassen?

Donnerstag, 26. November 2009

26.11.2009. Christine Ballivet

Heute vor einem Jahr ist Christine Ballivet in Lyon mitten bei ihrer Arbeit verstorben. Den ganzen Tag schon denke ich daran, einen Blog-Beitrag für oder über sie zu schreiben - denn ihr Tod hat mich sehr betroffen gemacht.

Nun habe ich im Internet eine Blogseite gefunden, die ihr gewidmet ist! Und auf dieser Seite kann man auch den Vortrag von Yeshayahu Ben-Aharon lesen, den er am 1. Juni 2007 in Colmar gehalten hat, und mit dessen französischer Übertragung Christine am Abend ihres Todes im Kreise ihrer Freunde beschäftigt war.

Vielleicht ist das Lesen dieses Vortrages eine angemessene Beschäftigung auf Erden für ihren ersten Geburtstag in der geistigen Welt.

http://www.dialogos.oslo.no/doorstodialogue/

Montag, 23. November 2009

Gedichte. Weltinnenräume

Neben der Epik und der Dramatik präsentiert die Lyrik eine andere Art der Wortkunst – ursprünglich ist sie die zum Spiel der Leier gehörige Dichtung. Letzte Woche habe ich darüber geschrieben, dass Romananfänge wie Signale wirken. Dass sie Zeichen setzen, den Blick richten und einen Weg weisen. In dem nun folgenden Text will ich beschreiben, wie es sich mit Gedichten verhält. Gedichte sind etwas gänzlich anderes und haben kein Ziel, das sie anvisieren.

Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort.

(Hilde Domin, 1993.)

Gedichte erwachsen aus der Spannung von Worten, sie erbitten Räume. Innere Räume. Herzensräume. „Weltinnenräume“ im einzelnen Menschen – so wie es Rilke nennen würde. Gedichte erklingen und erblühen im Innern, wenn die Spannung zu etwas Neuem, einer Geburt führt. Sanft oder schroff, hart oder weich, verständlich oder unverständlich, erinnernd oder hoffend, flehend oder bittend, in die Vergangenheit oder in die Zukunft weisend.

[…]
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.

Rainer Maria Rilke, aus: Die Gedichte 1910 bis 1922.
(München oder Irschenhausen, August/September 1914)

Wenn ich ein Konzert höre, ein Live-Konzert, in dem Musiker ihre Musik nach außen setzen, Klänge erklingen lassen, die sie in diesem speziellen Moment produzieren und zu verschenken haben, wenn der Raum von klingender Musik erfüllt ist, wie das nächtliche Himmelszelt von Sternen übersät ist, dann geschieht etwas. Wenn Musik erklingt, sich im Raum ausbreitet und dann verhallt, ereignet sich etwas im Hier und Jetzt. Die Zuhörer werden in einen Klangregen getaucht. Von außen. Wie in einen warmen Frühlingsregen – oder auch wie in ein stürmisches Gewitter. Klänge nähern sich dem Menschen und dringen von außen nach innen.

Noch bist du da

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben

(Rose Ausländer)

Eine entgegengesetzte Tätigkeit zum Musikhören ist die Beschäftigung mit Gedichten, die Annäherung an verdichtete Wortkunstwerke. In Gedichten klingen die Worte nicht von außen, sondern von innen. Gedichte sind Ver-dicht-ungen, sind Worte in ihrer kräftigsten und reinsten Form, die in der Lage sind, neue und gegensätzliche Welten entstehen zu lassen. Gedichte können nur im Innern des Menschen erblühen – sie haben außen keinen Stand – auch, wenn sie dunkel, verwirrend und erschütternd sind.

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends […]


(Paul Celan, 1952, in: Todesfuge.)

Gedichte lassen sich auch nicht „erklären“ – auch wenn sie dialektisch geschrieben sind und unseren „Verstand“ ansprechen. Gedichte sind auf immaterielle Türen im Innenraum „Mensch“ angewiesen, persönliche und verwundbare Eingänge, die sich individuell und ganz bescheiden öffnen. Große Tore sind für etwas anderes da – Gedichte, Wortkunstwerke in verdichteter Form – schlüpfen oft unbemerkt durch kleine Lücken und bewegen sich leise aber unaufhaltsam.

Angst und Zweifel

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel

(Erich Fried)

Gedichte können Herzen erwärmen, innere Lichter anzünden, wie Rosenknospen erblühen. Gedichte brauchen Stille und erwachen, wenn ein offener Raum für Wort-Bilder entsteht. Diese Bilder, ob schaurig oder schön, können leben, wenn Worte anwesend sind und sich ausbreiten dürfen. Klare, definierte Worte. Wenn ein Dichter ein Gedicht verschenkt, wenn er es der Öffentlichkeit übergibt, dann braucht es ihn nicht mehr. Gedichte machen sich dann, wie auch andere Textgewebe, selbstständig – sie präsentieren sich in gedruckter Form, warten und bieten sich an.

Der Leser ist es, der den Wortverknüpfungen oder -schöpfungen, wie zum Beispiel „Maschentausendabertausendweit“ von Else Lasker-Schüler, zum Leben verhilft.

Wenn klingende Musik wie ein Regen von Sternschnuppen auf den Menschen niedergeht, dann sind Dichtungen wie knospende Rosen im Herzen, die erblühen können.

Montag, 16. November 2009

Räume und Signale. Gedichte und Romane

„ Die Dinge sind alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert.“
(Rainer Maria Rilke in einem Brief an Franz Xaver Kappus am 17.2.1903 in Paris.)

Und trotzdem: Gedichte eröffnen innere Räume. Satzanfänge in Romanen geben Signale. Sie weisen in eine Richtung und zeigen dem Leser den Weg. Heute werde ich einige Romananfänge zitieren und den Leser einladen, sich davon berühren zu lassen. Mein nächster Text wird sich dann mit Gedichten beschäftigen.

„Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.“
(Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz)

Es sind weniger als dreißig Buchstaben, die uns in der deutschen Sprache zur Verfügung stehen, aber daraus können unendlich viele Worte gebildet werden, die wiederum in unzähligen Kombinationen miteinander auf der Bühne der Sprache auftreten und sich entfalten können. Sie produzieren Textgewebe, Klangteppiche, Wortbilder die in Art, Stimmung und Bedeutung nicht unterschiedlicher sein könnten.

„Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit.“ (Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert)

Viel äußere Materie ist für die Bildung von Worten nicht nötig – ob sie nun gesprochen oder geschrieben werden – aber „innere Materie“. Ohne einen Innenraum, eine menschliche Seele, die den Klang von Worten aufnimmt, die den Sinn von Sätzen annimmt, die den Worten Bedeutung gibt und ihnen ein Ankommen ermöglicht, die Verbindungen schafft und dem Wortgeflecht ein Netz bietet, ist der Dichter, der Poet, der Schriftsteller oder Publizist, der Schreiber oder Autor verloren, einsam und seine Worte zerplatzen wie Seifenblasen.

„Pst! Der Rosengarten lag noch farblos, doch schon erkennbar am Fuß der Mauer.“ (Adolf Muschg: Der Rote Ritter)

Mit Worten klopfen wir an Türen, und je nach Stimmlage, Ausdruck oder mitgeschicktem Blick, öffnen sich die Türen sanft, vorsichtig, abrupt, schnell, nur einen Spalt breit oder weit und einladend. Worte sind Brücken. Ausgespannte Regenbögen. Worte schneiden ab oder verbinden. Sind kalt oder warm. Werden schnell oder langsam gesprochen – geschrieben - gelesen.

„Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb.“
(Jurek Becker: Bronsteins Kinder)

Erinnerungen und Träume, Vorstellungen und Wünsche bekommen in der Welt der Bedeutungen durch Worte die Chance sich zu zeigen – mittelbar, mit-teil-bar zu sein. Neben den Buchstaben brauchen wir Worte und Satzgefüge, damit sich die physische Welt in allen ihren Erscheinungen abbilden lässt. Und damit die seelische und geistige Ebene vermittelbar wird.

„Noch bevor Ebling zu Hause war, läutete sein Mobiltelefon.“
(Daniel Kehlmann: Ruhm)

Worte sind wie brennende Fackeln in der Dunkelheit. Sie leuchten grell oder sanft, blau oder rot. Epische Weiten entstehen. Düfte, Klänge oder Farben mischen sich ein – auch sie: aus Worten geschaffen. Aber es kann auch Enge entstehen. Konsequenz. Ein inneres Ringen.

„Ich bin nicht Stiller.“
(Max Frisch: Stiller)

Wenn Worte still auf dem Papier ihrer Leser harren, dann sind sie auf ihre Umgebung angewiesen. Auf Satzzeichen, links und rechts, oben oder darunter stehende Bekannte, Verwandte und Freunde, auf das große Ganze, das sich ergibt, wenn Worte sich zusammentun und etwas entstehen lassen.

„Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Russland führt.“

(Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß)

Der erste Satz in einem Roman sendet Signale aus. Noch ist ganz offen, wohin sich die Erzählung bewegt. Aber mit jedem Satz wird das Muster des Wortteppichs deutlicher.

Samstag, 14. November 2009

Ein alter Tibetteppich

Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit,
Maschentausendabertausendweit.

Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küßt Dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?

Else Lasker-Schüler, 1906

Montag, 26. Oktober 2009

Herzlich willkommen auf dieser Erde - Johann sei gegrüßt!

Für Johann Maximilian Pannitschka, geb. 23.10.2009 in Berlin

Als ich von deiner Geburt hörte, dachte ich an Pico della Mirandola. Sein physisches Leben ist schon lange vergangen, aber das, was ihn beschäftigt hat, ist uns über seine Bücher, Briefe, Bilder und die Aufzeichnungen anderer erhalten geblieben. Er war ein großer Humanist, der in der italienischen Renaissance von 1463 bis 1494 in Italien zu Beginn der Neuzeit gelebt hat. Er hat - unter anderem - 900 Thesen geschrieben, die er dem Papst vorlegen wollte. Diese Thesen leitet eine Abhandlung über die Würde des Menschen ein (geschrieben 1486). Pico malt darin mit seinen Worten ein Bild des Menschen, der die höchste Verantwortung in Freiheit für sich selber trägt. Folgender Text ist daraus entnommen:

Gott spricht zum Menschen nach der Schöpfung:
" Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünscht, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünscht. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehs zu entarten. Es steht dir ebenso frei, dich in die höhere Welt des Göttlichen durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben."

Dieser Text beschäftigt mich schon lange. Der mündige Mensch, ein Bildhauer und Dichter seines Lebens, der sich selbst bestimmt und gestaltet.

Ausgehend von einem allgemeinen Verständnis eines Bildhauers, der ‚Bildwerke haut’, dem eines Künstlers, der plastische Kunstwerke aus Stein, Holz oder anderen Materialien herstellt, entsteht das Bild eines willensstarken Menschen, der das, was in seinem Inneren lebt durch äußere Formen zum Ausdruck bringt. Zu denken ist zum Beispiel an die herausragenden und formstarken Plastiken von Michelangelo (1475-1564) der in Marmor gearbeitet hat. Es lässt sich nur ahnen, welcher Wille, welche physischen Kräfte und seelischen Gestimmtheiten notwendig waren, um solche Werke zu vollbringen. Ein Schlag mit dem Stemmeisen am Marmor ist nicht mehr ungeschehen zu machen – das Absplittern des Steines kann nicht rückgängig gemacht werden. Die bildhauerische Arbeit verlangt eindeutige Formen, anschaubare Konturen.

Eine plastische Skulptur vermittelt weniger offene Vorstellungen - im Gegensatz zum Dichter, - sondern sie zeigt, wie die Verhältnisse gerade sind. Er schafft konkrete, materielle Formen die einen Ausdruck tragen. Der Bildhauer braucht konkrete Vorstellungen und einen festen Willen für seine Arbeit – sonst würde er nichts zustande bringen.

Ähnlich und doch anders ist das Bild des Dichters, er bewegt sich auf der imaginativen Ebene. Dichter sind Komponisten sprachlicher Kunstwerke. Dichten ist, mit Worten Bilder entstehen zu lassen. Dem Dichter steht die Sprache mit all ihren Variationen als Ausdrucksmittel zur Verfügung. Jeder Betrachter muss für sich das innere, seelische Bild, das ein Dichter in seinen Werken entstehen lässt, in sich selber zu Leben erwecken und Raum schaffen um es sichtbar und erlebbar machen. Dabei hat man es nur indirekt mit etwas Materiellem zu tun, sondern vielmehr mit etwas innerlich seelisch erlebbarem. Hier kann es um Rück- oder Vorblicke des Lebens gehen, um Ahnungen und Träume, um das Verarbeiten von Erlebnissen, oder um das Entstehen von Visionen.

Während die zeitliche Dimension des Bildhauers die Gegenwart ist, in der ein fruchtbarer Moment einer Figur oder Gegebenheit festgehalten bzw. sichtbar gemacht wird, befindet sich der Dichter im Spiel zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die menschliche Sprache erlaubt uns mit ihren sprachlichen Eigenschaften einen weiten Bogen von ferner Vergangenheit, zu weit vor uns liegender Zukunft, zu schlagen. Die Gedichte eines Rainer Maria Rilke (1875-1926) veranschaulichen das zum Beispiel. Innerhalb der Sprache ist es möglich Vergangenes zu reflektieren, Seinszustände zu beschreiben und Zukunftsvisionen zu malen. Der Dichter hat innerhalb der Sprache ein differenziertes und großes Spektrum sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten für Bilder und Vorstellungen zur Verfügung, die durch Rhythmus und Klang ergänzt werden.

Während der Bildhauer eine allgemeine Welt-Sprache spricht, die, kulturell bezogen, weiträumig verstanden werden kann, ist der Dichter im Allgemeinen an seine eigene Muttersprache gebunden. Übersetzungen oder Übertragungen von Gedichten mögen das zeigen: die generelle Idee des Bildes, über das der Dichter spricht, kann vielleicht in eine andere Sprache übersetzt werden, um jedoch das Bild aus Worten in seiner Tiefe und Originalität zu verstehen, muss man der ursprünglichen Sprache kundig sein.

Picos Beschreibung des Menschen, der wie ein Dichter sein Leben erdichtet und wie ein Bildhauer, sein Leben ‚behaut’, ist ein Bild für den freien Menschen. Ich wünsche dir, lieber Johann, von ganzem Herzen, dass du im Laufe deines Lebens den Bildhauer und Dichter in dir entdeckst, erweckst und kreativ nutzt.

Von Herzen, deine Tante Sophie

G. Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen (Oratio de hominis dignitate).

Montag, 19. Oktober 2009

Lehrende und Lernende. Oder: Erwachsenenbildung zwischen gestern und morgen.

Liebe Olga.
Heute möchte ich gerne unser Gespräch über eine zeitgemäße Erwachsenenbildung weiterführen. Wie du ja weißt, waren meine Erfahrungen in Stuttgart nicht sehr glücklich. Nun war ich in Alfter an der Alanus Hochschule. Ich werde meine Eindrücke zusammenfassen.

Eigentlich wissen wir es ja alle schon längst: Im 21. Jahrhundert angelangt gibt es keine allwissenden Lehrer oder Dozenten mehr, die, wie im „Nürnberger Trichter“, Wissen an ihre Schüler oder Studenten weitergeben. Und es gibt auch keine Schüler oder Studenten mehr, die sich auf so etwas einlassen. Lernende sind individuell, haben Vorerfahrungen, wissen was sie wollen und können für einen Lehrenden sehr unbequem sein. Schüler und Lehrer oder Studenten und Dozenten müssen sich neu definieren – neu aufeinander zugehen, Rollen einnehmen und Haltungen sichtbar machen. Was macht einen Lernenden im 21. Jahrhundert aus und was einen Lehrenden?

Meine Erfahrungen Jugendliche zu unterrichten reichen noch nicht, als das ich etwas darüber schreiben könnte. Aber in Bezug auf die Erwachsenenbildung wäre einiges zu sagen. Selbst als Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig, bin ich jetzt auch wieder in die Rolle einer Studentin geschlüpft. So, wie du auch diese beiden Rollen kennst. Ich will dir von meinen Erfahrungen berichten.

Das Leitbild in der Erwachsenenbildung bei NALM halte ich in Hinsicht auf die Grundhaltung der Lehrenden für heutig, passend, angemessen (konstruktivistisch würde man es „viabel“ - lebensdienlich - nennen). Es beinhaltet neben den verschiedenen Feldern, auf denen sich „Bildung“ im weitesten Sinne ereignet, drei Haltungen, die der Lehrende je nach Situation einnehmen kann.

Er ist zunächst derjenige, der Lernprozesse möglich macht, also ein Setting anbietet, inhaltliche Angebote macht, einen Weg skizziert und sich selbst mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen zur Verfügung stellt, er schafft Möglichkeiten. In der Erwachsenenbildung nennt man ihn deshalb den „Möglichmacher“ oder weiter gefasst, den „Lern(prozess)begleiter“ für diejenigen, die etwas lernen wollen.

Auf einer anderen Ebene ist der Lehrende genauso ein Mensch, wie der Lernende auch. Er ist ein „Mitmensch“, der Gefühle und Bedürfnisse hat, Erfolgs- oder Mißerfolgserlebnisse durchläuft, der „mal gut“ und „mal nicht so gut“ drauf ist. Er setzt sich aus seinen Erfahrungen und Erlebnissen zusammen, seinen Erwartungen und Hoffnungen. Auch diese Ebene kann einen Platz zwischen Lehrenden und Lernenden haben.

Ja und dann gibt es noch die Ebene des Faches. Ein Lehrender vertritt eine Disziplin, er ist Vertreter eines Faches, er ist ein Fachmann auf seinem Gebiet. Zu seinen Aufgaben gehört es in dieser Beziehung, die Grundlagen und Grundfragen darzustellen und erlebbar zu machen. Darüber hinaus ist es aber gut möglich, dass der Lernende im Laufe der Zeit fachlich über den Lehrenden hinaus geht. Die dritte Haltung nennt man deshalb den „Diener“ in Bezug auf das Fach.

In den letzten zehn Tagen habe ich meine ersten Erfahrungen als Studentin an der Alanus Hochschule gemacht und ich muss sagen, dass ich von dem Miteinander zwischen „Lehrenden und Lernenden“ in Bezug auf Angebot, Atmosphäre und Fachkompetenz sehr angetan bin. Die Dozenten sind mir als Möglichmacher, Mitmenschen und Diener (ihres Faches) begegnet. Als Lernende fühlte ich mich geachtet, anerkannt und erwünscht. Denn: ohne Lernende auch keine Lehrenden. Mein fachlicher Wissensdurst wurde gestillt und die Seminargestaltung ließ alle Beteiligten sich ernsthaft, frei, konstruktiv und alltagstauglich einbringen.

Die Alanus Hochschule nimmt den Diskurs mit der heutigen Zeit und somit der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts, also mit uns als Zeitgenossen auf. Im Fachbereich Bildungswissenschaften kann man einen (offiziell anerkannten!) Master in Pädagogik machen, der den Schwerpunkt Waldorfpädagogik und Reformpädagogik beinhaltet. Eingebettet ist dieser Studiengang in den Diskurs der Erziehungswissenschaft, der an anderen (normalen) Hochschulen „gelehrt“ wird. Einig ist man sich in dieser Hinsicht, dass die Praxis der Waldorfschulen hoch anzuerkennen ist, die Theorie jedoch den heutigen wissenschaftlichen Maßstäben nicht genügt.

So ist die Alanus Hochschule bereit, das Werk Steiners kritisch zu untersuchen. Sie weiht die Studenten nicht in Mysterien ein, sondern lädt sie ein, sich eigenverantwortlich und kritisch auf Texte einzulassen, die die Ideen, Gedanken und Überzeugungen Steiners darstellen. Die Lernenden übernehmen die Verantwortung dafür, was und wie sie lernen. Obgleich es natürlich auch an dieser Hochschule ein Modulhandbuch gibt und gewisse Kriterien erfüllt sein müssen, sind es doch die Lernenden, die ihre Fragen einbringen und somit zu Mitgestaltern werden. Auf der Ebene des Möglichmachens, des Mitmenschlichen und der Weiterentwicklung des Fachlichen.

Im Gegensatz zur Universität Tübingen, wo ich das Fach Erziehungswissenschaft studiert habe, stellt man an der Alanus Hochschule pädagogische Grundfragen – und versucht sie auch individuell zu beantworten. Jegliches pädagogische Handeln hängt vom individuellen Menschenbild der Beteiligten ab. Ob ich den Menschen, nach dem gängigen wissenschaftlichen Bild als „biologischen Roboter, Produkt der Gene, der zufälligen Evolution und des sozialen Milieus“ ansehe oder ihn als entwicklungsfähigen Menschen nehme, der Entwicklungsgesetzen und –schritten unterliegt und eine Entscheidungsspanne (auch Freiheit genannt) zwischen Gut und Böse zur Verfügung hat, ist ein großer Unterschied.

Dies sind menschliche Grundfragen, denen sich Lehrende und Lernende immer wieder stellen können. Daraus erwächst eine eigenständige Urteilsbildung. In Bezug auf die Überlebenschancen des steinerschen Erziehungsimpulses geht die Alanus Hochschule mutige Wege. Sie stellt sich mit ihren Inhalten und Wegen der Zukunft. Ein interessanter Studienort!

Herzlich, Sophie

Montag, 5. Oktober 2009

Parzival im Netz. Oder: Ich und die Anderen

Wenn die Parzival-Geschichte verfilmt würde (was hoffentlich niemals geschieht!) dann würden die Übergänge zwischen den einzelnen Szenen sicherlich von den Ritten Parzivals auf seinem Pferd geprägt sein. Parzival reitet von Station zu Station durch die Zeit – er lässt sich von seinem Pferd führen, denn er lenkt es nicht. Wolfram von Eschenbach betont immer wieder, wie weit, wie schnell und wie gut Parzival reitet. Der Held auf dem Pferd – das ist das verbindende Element zwischen den verschiedenen Ereignissen auf horizontaler Ebene. Parzival reitet mit wehender Mähne seiner Zukunft entgegen.

Auf vertikaler Ebene werden die Ereignisse von anderen Elementen geprägt – nicht von Pferden, die auf der physischen Ebene die Transportmittel von Event zu Event darstellen, sondern durch Begegnungen mit verschiedenen Schicksalsgenossen. Diese Begegnungen lassen sich natürlich auch in eine zeitliche Kategorie hineinstellen, da sie nacheinander geschehen, sie haben aber weniger mit einem chronologischen Ablauf im Zeitstrom, als mit Höhen und Tiefen in der inneren Entwicklung des Helden zu tun.

Den Schnittpunkt zwischen den horizontalen Ereignissen und den vertikalen bildet die Mitte Parzivals, seine Seele. Gerade diese Ebene, die des sozialen Miteinanders, hat der „Held“ zwischen dem geistigen Strom (er ist durch seine Mutter ein Angehöriger der Gralsgesellschaft) und dem physischen (er ist, wie sein Vater, ein Artusritter) die ihm beide mitgegeben sind, auszubilden.

Was wäre Parzival ohne seine Mitmenschen – ohne das Leid, das ihm zugefügt wurde, ohne die Kränkungen, die Schmerzen, die Sünden, Fehler und Versäumnisse? Aber auch ohne die Hilfe, den Glauben an ihn, die Liebe, die Sühne, die Begegnung mit ihm? Das „Glück“ seiner Entwicklung ist ja, dass er nie weiß, was kommt, dass aber immer etwas kommt. Und das er auch gar nicht weiß, was er „will“ – die Zukunft ist ihm verschlossen, er hat keine Vorstellung davon –aber er ist mit wehender Mähne unterwegs.

Wenn man die Geschehnisse zurückverfolgt – also die ganze Entwicklung überblickt – dann fallen bestimmte Figuren auf, die eine besondere Bedeutung für das innere Leben des Helden haben. Erst im Laufe der Geschehnisse wird das Netz sichtbar, in dem sich Parzival bewegt. Zunächst hat er ja keinen anderen Ansprechpartner als seine Mutter. Damit etwas passiert, etwas in Bewegung kommt, braucht es andere Faktoren, neue Herausforderungen, Fragen und Gegebenheiten – Figuren stellen sich ihm in den Weg.

Je nach Blickwinkel, bekommen die verschiedenen Figuren Zuordnungen, die sichtbar machen, was Parzival ihnen verdankt, was er an oder mit ihnen lernt, wie er seinen Weg durch sie geht – und auch, was sie in ihm herausfordern. Mit diesem Blickwinkel fallen folgende Figuren in ihrer Rolle für Parzival auf:

Ermöglichungsfiguren: Herzeloyde und Gahmuret. Der Held braucht Eltern. Ohne sie kann er nicht auf der Erde leben. Seinem Vater begegnet Parzival nie. Denn der will dem mächtigsten Herrn auf Erden dienen und zieht in den Orient – um dort zu sterben, bevor Parzival geboren wird. Aber er hinterlässt seinem Sohn ein Erbe: den Mut zum Aufbruch, zur Suche nach sich selbst. Herzeloyde, als ängstliche, alleinerziehende Mutter versucht den Knaben vor der Welt zu schützen, damit er nicht so werde wie sein Vater: tot und ein Held. Aber gerade die Welt sucht Parzival – und so zieht er davon.

Leit- und Opferfiguren: Titurel, Jeschute und Ither. Titurel ist der erste Gralskönig auf Erden. Er hat sein Amt an seinen Sohn Frimutel abgegeben, der jedoch bald verstorben ist. Nun ist Anfortas der leidende Gralskönig. Um zu sterben, muss der greise Titurel warten, bis ein würdiger Nachfolger das Amt übernimmt. Titurel „leitet“ Parzival. Damit aber Parzival „ausgebildet“ wird, etwas lernt, muss er etwas tun, sich in das Leben hineinstellen. Und so führen die missachteten Bedürfnisse des aufbegehrenden Parzivals zu Taten, die er später sehr bereut. Ein Überfall auf eine begehrliche Frau, ein Totschlag für die rote Rüstung. Jeschute und Ither „opfern“ sich, um Parzival Erfahrungen zu ermöglichen, die Vorboten für spätere Herausforderungen sind und wegweisend für ihn werden.

Lehrerfiguren: Gurnemanz und Trevrizent. Zwei weise Männer bieten dem Ungestümen und Verzweifelten an, ihm ihr Wissen weiterzugeben. Die Lehre Gurnemanz‘ bleibt äußerlich, Parzival kann sie noch nicht individualisieren. Anders ist das am Ende der Geschichte beim Karfreitagsgespräch mit Trevrizent. Parzival hört die Schuld, kennt seine Sünden und geht über seinen Lehrer hinaus, der keinen anderen Weg als die Buße sieht. Parzival macht sich die Lehren zu Eigen, führt sie fort und überwindet die althergebrachten Ge- und Verbote.

Signalfiguren: Sigune und Kundrie. Dreimal begegnet Parzival Sigune im Wald um die Gralsburg. Das erste Mal sitzt sie mit ihrem toten Geliebten unter einer Linde, das zweite Mal in der Baumkrone und das dritte Mal hat sie sich in einer Klause einmauern lassen. Jedes Mal gibt sie wichtige Informationen weiter (wie zum Beispiel seinen Namen!), die Parzival eigentlich zur Verfügung stehen müssten. Und als Kundrie Parzival vor dem Artushof verflucht, und später seine Gralsberufung kund tut, spricht sie das aus, was sich in seinem Gewissen regt.

Helfer- und Orientierungsfigur: Iwanet und Artus. Iwanet ist ein Knappe von Artus. Er hilft dem unbeholfenen Parzival die Rüstung Ithers anzulegen und somit eine neue (äußere) Identität anzunehmen. Im Laufe der Geschehnisse hat er immer wieder mit der Kleidungsänderung des Handlungsträgers zu tun. Artus ist König und Kraft seines Amtes befähigt, Urteile zu fällen. Gerade das macht er aber in Bezug auf Parzival nicht. Er ist sowohl beim Totschlag Ithers dabei, als auch bei der Verfluchung Kundries. Artus präsentiert sich auf der physischen Ebene als „Orientierungspunkt“ für Parzival – auf der Gegenseite zum Gralskönig Anfortas, der die geistige Ebene repräsentiert.

Träger- und Gegnerfiguren: Condwiramurs und Lähelin. Condwiramurs ist die einzige Figur, die Parzival nie in Frage stellt. Auch sie eine alleinerziehende Mutter - wie Herzeloyde - jedoch voller Vertrauen, Anerkennung und Wertschätzung dem Helden gegenüber. Sie gibt, was sie geben kann und nimmt, was sie bekommt. Anders ist das mit Lähelin. Er hat es auf die Ländereien des Protagonisten abgesehen. Da er sich aber „nur“ auf der physischen Ebene bewegt, und Seele und Geist nicht erreichen kann, ist er eine marginale Bedrohung.

Freund- und Bruderfigur: Gawan und Feirefiz. Gawan wird wie ein lichter Spiegel des Helden präsentiert. Er taucht meistens dort auf, wo Parzival nicht ist. Physisch ist er ihm selten nah, seelisch aber umso mehr. Als Parzival in bitterster Bedrängnis in die „Blutstropfenszene“ gerät, ist er derjenige, der ihn „erkennt“ da er wie sein Bruder ist. Sein „echter“ Bruder, Feirefiz, wird zum Maß der Integrität, als die beiden miteinander kämpfen und sich, kurz vor einer Katastrophe, über den gemeinsamen Vater gegenseitig annehmen. Gawan und Feirefiz, zwei Brüder, einer seelisch und der andere physisch.

Erkenntnisfigur oder Zielfigur oder Aufwachfigur oder Alles-in-allem-Figur: Anfortas. Anfortas stellt sich für den Schmerz zur Verfügung. Selber die Gralsregeln verfehlt, ist er darauf angewiesen, dass Parzival die eigene Verwundung, die Verfehlung am Anderen, das Dunkle in der Welt erkennt und anerkennt. Dadurch kann er geheilt werden. Eine physische Wunde wird durch seelische Anteilnahme und geistige Erkenntnis der Zusammenhänge geheilt. Auf die Heilung Anfortas‘ ist der Weg Parzivals ausgerichtet. Hier findet das mitmenschliche, soziale Wunder statt.

Und das mitmenschliche, soziale Wunder kann sich nur zwischen den Figuren ereignen - der eine braucht den anderen. Parzival wäre nicht Parzival, wenn er nicht sein Schicksalsnetzwerk - mit jeder einzelnen Figur! - um sich hätte, um daran zu wachsen.

Das Netz in Parzival.
Oder: Die Anderen und Ich.

Montag, 28. September 2009

„Lerne das Gefundene zu behandeln als das Gesuchte.“ Adolf Muschg und seine „Kinderhochzeit“

Die Kunststiftung Hohenkarpfen hat zu ihrer Mitgliederversammlung (25.9.2009) zum 25-jährigen Bestehen ihres Vereins im ehrwürdigen Sitzungssaal des Rathauses Donaueschingen offiziell eingeladen. Nach den zügig vorgetragenen und rundherum positiven Regularien hatte die Stiftung einen renommierten Autor eingeladen um aus seinem letzten Werk zu lesen.

Somit habe ich den Schweizer Adolf Muschg zum dritten Mal aus seinem Buch „Kinderhochzeit“ lesen hören. Jedes Mal wählt er eine andere Stelle aus, jedes Mal holt er die Figuren in den Raum und jedes Mal berührt es mich, mit welcher Innerlichkeit er seine eigenen Worte vorträgt. Worte, die sich gebildet haben, dann auf das Papier gebannt wurden und sich nun wieder von der schriftlichen Form durch eine Lesung in eine mündliche Wiedergabe verwandeln. Der große Vorteil, wenn Worte gesprochen werden ist ja, dass sie einen deutlicheren Klang, einen Geschmack mitliefern.

Wenn man die Namen der beiden Protagonisten des Romans bei google eingibt, bekommt man zwei markante Ergebnisse: Bei „Klaus Marbach“ stößt man sofort auf eine Menge „realer“ Personen, die dies und das, da und dort vertreten, gemacht haben oder tun wollen. Wenn man aber „Manon de Montmollin“ eingibt, landet man direkt in der „Kinderhochzeit“ von Muschg.

Dies ist symptomatisch für den gesamten Roman. Es ist das Leitmotiv. Geschichte und Literatur tun sich zusammen. Es geht um Reales und Fiktionales, Gewesenes und Erdachtes, Mögliches und Unmögliches. Klaus und Manon gehören in das Netzwerk des Autors, so wie du und ich. Auf der Ebene der Geschichten gibt es da keinen Unterschied, ob es sich um literarische oder reale Figuren handelt. Der Anlass für das Buch ist ein dunkles Kapitel. Es ist nur ein Buchstabe, der Geschichte von Geschichten trennt.

In Muschgs neuem Roman geht es um Grenzen. Auf allen Ebenen. Symbolträchtiger Ort des Geschehens ist eine Stadt Nieburg, die durch den Rhein geteilt wird. Die eine Seite ist schweizerisch, die andere deutsch. Was hat sich hier in der Nazizeit abgespielt? Wer trägt „Schuld“, wer ist „Opfer“, wer hat hingeschaut, wer weggeschaut, wie geht man mit dem eigenen Gewissen um – und, was ist überhaupt passiert?

Nicht immer kann jemand, der schreiben kann, auch reden. Adolf Muschg ist aber so jemand – er kann reden, und wie! Seine gesprochenen Worte unterscheiden sich von seinen geschriebenen kaum. Und das bedeutet, dass sie die gleiche Quelle haben. Er ist als Autor und Zeitgenosse der Knotenpunkt für das, was im Roman und auch sonst gesagt werden muss: etwas über die Geschichte von Figuren, von Orten und von Unternehmungen.

Im Donaueschinger Rathaus steht Muschg souverän am Pult und spricht und liest immer im Wechsel – nicht anders als die Redner vor ihm, die Zahlen und Dankesworte, zwecks Abarbeitung ihrer Mitgliederversammlung, vorgetragen haben.

Im Folgenden ein paar Worte über den Inhalt, obgleich gerade der verschlungen ist und nur einen Teil des Textgewebes ausmacht. Da ich den umfangreichen Roman aber gelesen habe, kann ich über das, was vorgetragen wurde hinausgehen: Den Rahmen der Erzählung bildet das Jahr 2003. Sie beginnt in der Neujahrsnacht in Istanbul - Klaus Marbach wird von seiner Frau Manon de Montmollin mit einer unerwarteten Nachricht überrascht. Die Erzählung endet ein Jahr später mit Klaus’ Tod. Aber das ist nur einer von vielen ineinander greifenden Strängen der Erzählung, nur eine Perspektive, die dem Leser angeboten wird.

Genauso könnte man sagen, dass sich die Erzählung über den Zeitraum von zwei Generationen erstreckt und davon handelt, wie die eine aus der anderen hervorgeht. Es geht um Gewissensfragen und um Spuren, die Taten, Ideen und Menschen hinterlassen. Die Erzählung beginnt wie ein Krimi: mit einem Mord der aufgeklärt werden muss. Wie konnte es in unserer zivilisierten Welt dazu kommen?

Väterlose Söhne spielen für das Geschehen eine Rolle, millionenschwere Erben tauchen auf, verschiedene Ehen verbreiten einen Hauch der Unzulänglichkeit um sich, Grenzen und Grenzstädte setzen Zeichen: Rheinfelden, Görlitz, Berlin und ein Bild aus dem Jahr 1949, eben das, das Kinderhochzeit genannt wird, greifen ineinander.

Auch geht es um die Ehe von Imogen Selber-Weiland und Iring Selber sowie deren Tod 2003. Neben dem Auftritt des Herrn „Selber“ kommen die Bemühungen eines Herrn „Nicht“ dazu, der gerade in seinem Fall für Klaus Marbach unschätzbare Recherche-Dienste leistet. Die Namensgebung leistet da interessante Interpretationsansätze. Es gibt viele Spuren, Stränge und Wege durch den Roman, der Inhalt lässt sich hier nur unzulänglich zusammenfassen – er will gelesen sein.

Obgleich Klaus Marbach ein wichtiger Protagonist ist, muss sich der Leser darauf einlassen auch vieles von anderen Figuren zu erfahren, allerdings ohne ihre Gesamtgeschichte zu überschauen - sofern so etwas überhaupt möglich wäre. Klaus’ Ende gar wird durch das Erleben seiner um ihn bangenden, sich von ihm scheiden lassenden Frau erzählt - und sie weiß, naturgemäß, nicht viel von ihm. So bleibt am Ende der Erzählung eine Hoffnung: „Die Antwort will nicht gesucht sein, sie findet sich. Sie findet dich.“

Adolf Muschg versteht es in seinem Roman ein spannendes Beziehungsnetz aufzubauen und die Hauptfiguren zu verfolgen, die nicht weniger Relevanz im Donaueschinger Rathaus haben, als die Zuhörer. Er hat mit seinem Roman Tatsachen geschaffen – genau so, wie die Verantwortlichen der Kunststiftung Hohenkarpfen. Er hat das Motiv entschlüsselt, das sich Klaus Marbach als Lebensmotto gesetzt hat: „Lerne das Gefundene zu behandeln als das Gesuchte“.

Adolf Muschg: Kinderhochzeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2008
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Montag, 21. September 2009

Der Blick nach vorne und zurück

In jedem Moment unseres Lebens stehen wir auf einem Kreuzungspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Begriff der Gegenwart ist elastisch und nicht auf eine bestimmte Zeiteinheit begrenzbar. Von einem Tag zum anderen - von der Vergangenheit durch die Gegenwart - hinterlassen wir Spuren, die aus der Vergangenheit kommen und uns in die Zukunft führen. Physisch stehen oder laufen wir immer auf dem uns eigenen Kreuzungspunkt und können nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein. Auf der seelischen und geistigen Ebene ist das anders. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und haben Pläne für die Zukunft.

Der Blick auf unser eigenes Leben hängt von der Perspektive ab und die Bewertung unserer Taten und dem, was wir unterlassen haben, ändert sich je nach Standpunkt. Es mag da einiges geben, was uns gefällt, auf das wir stolz sind oder für das wir uns schämen, das wir wiederholen oder vermeiden wollen. Diese Perspektive lässt sich auch einnehmen, wenn wir nach vorne, in unsere Zukunft schauen. Dort sind die Dinge noch nicht fest – noch nicht vergangen – sondern vage, offen und möglich – eben zukünftig.

Wie verhalten sich aber Vergangenheit und Zukunft zueinander – oder sollte ich lieber schreiben: Wie tanzen die beiden miteinander, so dass für uns ständig eine Gegenwart mit neuen Möglichkeiten entsteht? Wer hängt eigentlich von wem ab, oder anders gesagt: In welchem Verhältnis stehen diese Orientierungspunkte zueinander – wie kreiert sich der gegenwärtige Zeitstrom zwischen Vergangenheit und Zukunft?

Einerseits ist die Zukunft immer offen - eben noch unsichtbar - und andererseits schwimmt sie im Strom von Vergangenheit und Gegenwart, um sich daraus selbst zu gebären. Vergangene Tatsachen lassen sich nicht tilgen – die Einbettung in eine Bewertung ist aber variabel und hängt von der Perspektive ab, die wiederum mit dem Strom der Zeit immer wieder andere Knotenpunkte des Lebens als Standorte möglich macht. Bedeutung hängt also vom Standpunkt im Netz der Geschehnisse und der Beteiligten ab.

Das Geschenk von Lebenserinnerungen, Autobiographien und Memoiren aller Art, die die Lebensgeschichte eines Menschen betreffen, ist immer der rückwärtsgewandte Blick. Was ist gewesen, wie ist es gewesen, warum hat sich etwas so und nicht anders ereignet, kurz, in welche Umstände war der jeweilige Lebenslauf eingebettet. Wir erfahren etwas über Möglichkeiten, Notwendigkeiten, Herausforderungen und Unmöglichkeiten. Die Aufmerksamkeit ist auf die Vergangenheit orientiert. Was die selbstverfassten Biographien nicht bieten, ist der gesamte, umfassende Blick auf ein Leben, denn geschrieben wird – wie lange auch immer – vor dem eigenen Tod, die Perspektive ist also persönlich und „beschränkt“. Ganz anders sieht es aus, wenn ein Außenstehender auf das entsprechende Leben blickt und sich zu den verschiedenen Kreuzungspunkten äußert – oder wenn der Standpunkt ein nachtodlicher ist.

Laut Rudolf Steiner, und anderen geisteswissenschaftlichen Forschern, erlebt der Mensch nach dem Tod eine Rückschau auf sein eigenes Leben. Und zwar auf das gesamte Leben. Auf alles. Ausnahmslos. Die eigene Perspektive ist dann in Bezug auf die eigenen Lebenstatsachen endgültig. Was getan wurde, wurde getan, was nicht getan wurde, wurde nicht getan. Definitiv.

Die Bewertung des Vergangenen könnte aber noch einmal ganz anders ausfallen, als die, die im Leben vorgenommen wurde. Worauf kommt es – mit dem Blick des Nachtodlichen – im Leben eigentlich an, worauf ist die Orientierung für einen selbst und Außenstehende in Bezug auf die Geburt einer neuen Zukunft gerichtet?

Carl Djerassi hat in Bezug auf dieses Thema ein interessantes Buch herausgebracht. Er wagt den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft. Er lässt vier jüdische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die sich fast alle im Leben kannten, einander nachtodlich (auf dem Parnass) treffen. Es handelt sich dabei um die Philosophen Walter Benjamin (siehe Blog vom 21.6.2009) und Theodor W. Adorno (Frankfurter Schule), den Religionshistoriker Gershom Scholem und den Komponisten Arnold Schönberg.

Sie treffen posthum aufeinander – übrigens mit ihren Frauen – und sprechen über „Unerledigtes“, „Ungeklärtes“, „Unbekanntes“ oder schlicht über das, was eigentlich im Leben noch hätte geklärt, erklärt, abgeklärt, aufgeklärt oder verklärt werden können. Sie sprechen über das, was im Leben nicht gesagt wurde, was sie einander im Leben explizit nicht gesagt haben, nicht sagen konnten oder wollten. Über das, was sie nicht getan haben. Auch das, was sich nach dem Tod der Einzelnen politisch oder im privaten Umkreis ereignet hat, wird in der posthumen Unterhaltung thematisiert.

Ihre Gespräche kreisen um Themen, die ein außenstehender Biograph nicht beurteilen kann. Sichtbar ist lediglich, dass es „Lücken“, „Ungereimtheiten“, „Brüche“ oder schlicht „Fragen“ gibt. Und genau darüber lässt Djerassi die vier Männer miteinander reden. Quellen für diese Gespräche sind Briefe, Hinterlassenschaften, Berichte von Freunden, Texte und eben Lebenstatsachen. Djerassi beteuert, dass er nichts „erfunden“ habe, sondern lediglich seine „Funde“ zusammengesetzt habe. Er hat eine ungewöhnliche Perspektive eingenommen. Er hat das Herz Fragen zu stellen und bietet mögliche Antworten an. Dies geschieht auf eine Weise, dass die Beteiligten zwar mit ihren Schwächen oder Unzulänglichkeiten konfrontiert, jedoch nicht verurteilt werden. Es geht dabei um sehr menschliche Fragen, die sich auch unter der Überschrift „Die Verwirrungen des eigenen Lebens“ subsummieren lassen könnten.

Wenn Walter Benjamin in seinen Briefen an Gretel Adorno vom Sie zum Du und manchmal wieder zum Sie wechselt, hat das eine Geschichte. Einen Grund. Diese Gründe kennt niemand anderes als die beiden Betroffenen. Und es ist auch eine berechtigte Frage, ob diese delikate Tatsache überhaupt jemand anderen etwas angeht. Wenn man aber die veröffentlichten Briefe der beiden liest (und auch das ist natürlich eine Frage, ob so eine Veröffentlichung eigentlich „rechtens“ ist), dann können die benannten Feinheiten schon auffallen.

Djerassi ist nun so mutig und bietet ein Gespräch der Betroffenen über solche persönlichen Dinge an, er macht möglicherweise etwas aus der nachtodlichen Verarbeitung sichtbar. Durch die Worte der Betroffenen macht er mögliche Gründe der persönlichen Taten bzw. Unterlassungen erlebbar – und bewegt sie damit. Er lässt die Beteiligten über Dinge sprechen, auf die es möglicherweise im Leben angekommen wäre – was aus der Perspektive des Nachtodlichen möglich ist, und nur des Nachtodlichen.

Aus so einem Rückblick auf die Vergangenheit lässt sich erahnen, wie sich die Zukunft immer wieder neu gestaltet – auch über ein Leben hinaus.


Carl Djerassi: Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch - Benjamin, Adorno, Scholem, Schönberg. Haymon Verlag, Innsbruck 2008.

Dienstag, 15. September 2009

Lernen vom Leben. Oder: Karma macht das Leben groß

Wenn wir geboren werden, haben wir keine Kleider an. Haben keinen Besitz, keine „Erfahrungen“, wissen uns nicht zu benehmen, sind ungebildet und komplett auf die Fürsorge von Mitmenschen angewiesen, die uns ins Leben begleiten. Auch wenn wir sterben, verlassen wir die Erde ohne materielles Gepäck. Dazwischen aber, zwischen den beiden großen Tagen der Geburt und des Todes, sammeln wir so alles Mögliche an. Wir lernen unendlich viel. Abgesehen von materiellen Dingen, die unser Leben äußerlich begleiten, sind es im Wesentlichen die inneren Erfahrungen und Erlebnisse, die uns durch die Wirrnisse des täglichen Lebens führen.

Die Annahme, dass wir „vom Leben“ am meisten lernen - mehr und ganz andere Dinge, als in Schulen, Universitäten oder anderen offiziellen Bildungseinrichtungen - ist weit verbreitet. Oft sind es gerade Krisen, schwierige Situationen oder besondere Lebensumstände, die dazu führen, dass wir etwas lernen: uns verändern, Fähigkeiten entwickeln, neue Standpunkte einnehmen oder die Welt aus einem erweiterten Blickwinkel anschauen.

„Lernen“ birgt die Offenheit, etwas Neues, Anderes, Unerwartetes an uns heranzulassen und uns neu, anders oder unerwartet zu positionieren. „Lernen“ ist - genauso wie leben - immer ein Ereignis. Vieles läuft dabei unbewusst ab und gar nicht immer ist das „Lernen“ mit Anstrengung, Überwindung oder Belastung verbunden. Auffällig ist aber, dass jeder anders und etwas anderes lernt, dass das Leben eines jeden Menschen unterschiedlich verläuft und ganz andere Lernmöglichkeiten oder auch Herausforderungen birgt.

Das Leben spricht also unterschiedliche Sprachen. Wir nennen es gemeinhin Sozialisation, was zu diesen Unterschieden führt. Der eine wird in eine große Familie hineingeboren, der andere lebt mit seiner Mutter allein, der eine macht Reisen und lernt die Welt kennen, der andere kommt kaum aus seinem Landstrich heraus, jemand wächst in einer Großstadt auf oder auf dem Dorf. All diese Unterschiede ließen sich beliebig erweitern.

In spirituellen Kreisen spricht man weniger von Sozialisation, dort wird der Begriff in „Schicksal“ transformiert.

Welches Wort man auch immer wählt, gibt es einen Sinn hinter den Unterschieden? Oder ist das alles Zufall (das, was einem zu-fällt?) – mit dem einen hat es Gott gut und mit dem anderen ein bisschen bescheidener gemeint? Wie lassen sich die Unterschiede begründen, verantworten, ja, wie halten wir die Tatsache aus, dass es so unterschiedliche Startbedingungen ins Leben und Gegebenheiten durchs Leben gibt? Wo liegen die Quellen für diese Unterschiede?

Fragen sind aber nicht nur die unterschiedlichen Startbedingungen, sondern auch die unterschiedlichen Lebensmotive, -haltungen, -möglichkeiten, -anforderungen, schlicht die Art und Weise wie wir im Leben stehen. Anders ausgedrückt: Durch was konstituiert sich konkret die Individualität des Individuums – durch Sozialisation?

Jeder Mensch reagiert individuell, speziell und in seiner eigenen Art und Weise auf Ereignisse. Auch wenn verschiedenen Menschen „das Gleiche“ passiert, so ist damit noch nicht die Bedeutung, der Klang, die Konnotation genannt, die das Geschehen für den Einzelnen hat. Wie lässt sich das verstehen? Wie lässt sich die Individualität eines Menschen begründen, wenn sie über den Sozialisationsgedanken (und natürlich die entsprechende Bildungsgeschichte) hinausgeht?

Eine Möglichkeit ist der Gedanke der Wiedergeburt, des Lernens und sich Entwickelns über eine Inkarnation hinaus. Das Wort „Karma“ hat heute Konjunktur und ist ein schillernder Begriff. Es kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „Rad“. Und ein Rad ist ein Symbol für die Unendlichkeit. Es hat keinen Anfang und kein Ende, aber es dreht sich fort und fort - es symbolisiert eine fortwährende Bewegung.

Karma setzt den Gedanken der Reinkarnation voraus. Wenigstens als Hypothese - sonst ist mit ihm nichts anzufangen - denn die Überlegungen über Karma gehen über ein Leben hinaus: Es handelt sich um den großen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Zwischen Taten und Folgen. Um das, was entsteht, wenn ich mich – auf längere Sicht – so oder so verhalte. Der Begriff des Karmas ist also eng an die Individualität des Menschen geknüpft und geht von der eigenen Gestaltbarkeit des Lebens - eben über mehrere Inkarnationen hinaus - aus. Neben den offenen Chancen, die dieser Gedanke mitbringt, und ganz im Gegensatz zur Beweglichkeit eines Rades, wird der Begriff Karma im zwischenmenschlichen Leben heute aber auch oft mahnend oder sogar drohend gebraucht - denn wir kreieren unser Leben, unser Schicksal und damit auch unser Karma selber. Die eigene Verantwortung gehört also genauso wie das individuelle Gespür für sich selber dazu.

Der Gedanke des Lernens vom Leben arbeitet mit der Eigen-artigkeit des Individuums (wir sind nicht alle gleich) und er beinhaltet die Idee der Entwicklung (was nicht ist, kann noch werden). Jede meiner Taten hat Folgen – die ich aber nicht unbedingt kenne – und jedes meiner Erlebnisse hat eine Vorgeschichte – die auch aus einem anderen Leben stammen kann. So, wie die Identität eines Menschen auf dem Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht, bietet mir das Leben eine ganze Reihe von Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten an. Und das alles macht nur Sinn, wenn es wiederholte Chancen gibt.

Der Idee von Karma und Schicksal macht das Leben groß. Und es macht es abenteuerlich, denn wir überschauen die großen Zusammenhänge und menschlichen Netzwerke natürlich nicht bewusst. Das Leben selber wird zum Lehrmeister – denn wer könnte mich sonst über mein eigenes - so individuelles - Schicksal unterrichten? Wenn wir die vielen, kleinen Bemerkungen des Lebens zu lesen vermögen, können wir das, was aus der Vergangenheit transformiert werden will bearbeiten und uns die Fähigkeiten, die die Zukunft von uns fragt erlernen.

Der Gedanke von Reinkarnation und Karma stiftet Sinn. Lebenssinn. Und die eigene biographische Entwicklung lehrt uns das, was die offiziellen Bildungseinrichtungen nicht zu unterrichten vermögen. Am Ende des Lebens lassen sich nur die immateriellen Güter mit in einen geistigen Zustand überführen – die irdischen Kleider bleiben auf der Erde zurück.

(Fortsetzung folgt.)

Montag, 7. September 2009

Der Ruhrpott. „Orpheus tritt im Schacht und unter Tage auf.“

„Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt! Ist es besser, viel besser, als man glaubt! Bochum ich komm' aus dir! Bochum ich häng' an dir!“ singt Herbert Grönemeyer – und ich schließe mich ihm mit Freude an. Über zwanzig Jahre habe ich im Herzen des „Reviers“ gelebt und freue mich über den Stolz und die Herzlichkeit, mit der Grönemeyer - und nicht nur er - die Stadt Bochum mit ihren umliegenden Städten „tief im Westen“ noch immer besingt.

Das Ruhrgebiet, DAS Synonym für Industrie im Westen Deutschlands, wird nach der Ruhr, einem Seitenarm des Rheins, benannt und steht heute für eine bizarre Verbindung und interessante Spannung von Natur und Kultur, denn das Wort „Industrie“ steht stolz zwischen den beiden. Das Ruhrgebiet ist der größte Ballungsraum in Deutschland und die ungefähr fünf Millionen Einwohner des Kerngebiets leben in einem Verbund von Städten die ineinander übergehen. Bochum, Dortmund, Essen, Duisburg, Castrop-Rauxel, Bottrop – um nur einige Städte zu nennen.

Das Ruhrgebiet ist eine Gegend, ein Landstrich in Deutschland, in den die Menschen mit ihren Bedürfnissen tief eingegriffen haben. Ja, sie haben die Erde geöffnet und Unmengen an Kohle entnommen. Das Schwarze Gold. Schon im 13. Jahrhundert hat man in Witten im Muttental Kohle „gekratzt“ – aber besonders im 19. Jahrhundert war „der Kohlenpott“ von unendlich vielen Zechen geprägt. Es heißt, dass es einmal über 3000 gewesen sein sollen. Der Bergbau hat mit seiner Arbeit unter Tage tiefe Löcher in die Erde gebohrt, die Erde ausgehöhlt, Schätze entnommen und Wunden geschlagen - für die Menschen über Tage.

Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts hat die Stahlindustrie geblüht. Das Ruhrgebiet war eine dampfende, dreckige, laute Arbeitsmaschine. Die Natur wurde „ausgeraubt“, der Reichtum des Bodens verschlungen und der arbeitende Mann hatte für Kultur nur wenig Sinn – weil ihm weder überschüssige Kraft noch eine höhere Bildung zur Verfügung stand. Seit vielen Jahren aber, befindet sich das Ruhrgebiet in einem Strukturwandel. Was geschieht heute mit der brachliegenden Stahlindustrie, mit den Zechen und Industriegeländen, den Schächten und Hochöfen?

Die Ruhr hat die Betätigungen der Menschen stoisch ertragen. Einst ein durch die Industrie stark in Mitleidenschaft gezogener Industriefluss, trägt er heute wieder zum Erholungswert der Ruhrgebietler, die in weiten Teilen Deutschlands verkannt und kopfschüttelnd betrachtet werden, bei. Durch den Eingriff in die Erde ist im Herzen des „Reviers“ eine neue Hügellandschaft entstanden. Man nennt sie „rekultivierte Schutthalden“. Entlang der Ruhr hat sich etwas Neues entwickelt. Mensch und Natur arbeiten nun Hand in Hand um Kultur zu schaffen. Nach dem Tiefpunkt – der industriellen Aushöhlung – hat es sich ein neuer Impuls breitgemacht. Der Mensch hat die Natur industrialisiert, nun kultiviert er sie. Und zwar mit Stolz und ohne seine Vergangenheit zu verleugnen.

Meine Kindheit in Bochum („du Blume im Revier!“) war geprägt durch Opel. Man konnte direkt aus unserem Küchenfenster im 5.Stock auf die große Autofabrik schauen. Da wurde gearbeitet. Da passierte das Leben. Auch die Bierbrauerei Fiege gehörte dazu. Und die vielen Autobahnen. Die wunderschönen Sonnenuntergänge, tief im Westen, die von den Abstichen in den Hütten begleitet wurden und den Himmel oft in flammendes Rot verwandelten. Das Blut der Erde hat sich im Himmel transformiert.

Aber auch das Schauspielhaus Bochum spielte schon damals eine Rolle – in dem Gemenge der verschiedenen Menschen, die im Ruhrgebiet ihren Platz einnahmen. Denn mit den „Gastarbeitern“ zu Beginn der 60er Jahre traten auch die ersten südländischen Restaurants auf den Plan. Pasta und Pizza und Oliven und türkisches Fladenbrot fanden schnell einen Weg ins Revier und wurden freudig angenommen.

Heute kann man vielen der vergangenen industriellen Tätigkeiten nachgehen. Bahnlinien werden zu Spazierwegen, Gasometer zu Orten künstlerischer Besonderheiten, Schutthalden zu Erkundungswegen, Hochöfen zu Abenteuerspielplätzen, Fertigungshallen zu Konzertsälen und Orpheus tritt im Schacht und unter Tage auf.

Die Zeit von Udo Lindenbergs Malocher neigt sich deutlich dem Ende zu

(Der Malocher aus 'm Ruhrgebiet, / tat nun etwas, was sonst nur selten geschieht / schmiss seiner Frau das Mobiliar vor die Füße / und sagte: "Eh jetzt ist aber Schluß meine Süße. / Und mit dem Lottogewinn, das haut ja doch nicht mehr hin. / Komm Weib mach meinen Koffer klar! / Ich hau jetzt ab nach Paris, da ist das Leben so süß. / Da trink ich Sekt im Alkazar und tanze Chachacha!")

und der Champagner wird unter Tage schon mal für das Jahr 2010 kaltgestellt, denn da präsentiert sich das Ruhrgebiet als europäische Kulturhauptstadt. Und es wird sich öffentlich zeigen, welches Kreativitätspotenzial der Mensch besitzt und wie Kulturgeschichte geschrieben wird.

Montag, 31. August 2009

Suchen, gehen und finden. Über Parzival und Picasso

Wenn man auf die Geschichte von Parzival schaut, auf seinen langen Weg, den er vom Fortgang von seiner Mutter bis zur Erlangung der Gralskönigsschaft beschreitet, dann kann man eine Perspektive einnehmen, die das Suchen und Finden Parzivals in den Blick nimmt. Was ist es aber eigentlich, was er sucht? Und was findet er tatsächlich?

Das Verb „suchen“ bedeutet ursprünglich, „nachspüren, wittern, ahnen“ und wird im weitesten Sinne von „sich bemühen, etwas Verstecktes oder Verlorenes zu finden“ gebraucht. „Suchen“ beinhaltet also, sich (vorsichtig) zu bewegen. Von einem Ort zu einem anderen, von einer Tatsache zu einer nächsten oder eben von einer Ahnung zu einer weiteren – und das alles mit dem Gespür für das Unbekannte, Neue, Fremde, noch nicht Erreichte. Der Suchende „erstrebt“, „trachtet“, „ahnt“ oder „spürt“ etwas, nach dem er sucht (und das er finden will), er beginnt etwas, öffnet sich, er ist im Kommen.

Das Verb „finden“ bezeichnet den Endpunkt einer Suche – ob sie nun bewusst oder unbewusst vollzogen wurde. Etymologisch kommt das Wort von „auf etwas treten, antreffen, auf etwas kommen“. Die indogermanische Wurzel des Wortes verweist auf „treten“ und „gehen“. Somit gehört auch zum Finden die Bewegung – ob gedanklich oder physisch. Sie muss stattgefunden haben, sonst lässt sich nichts finden. Jemand, der etwas „findet“ ist im Ankommen, er hat sich oder etwas „gefunden“ – innerlich oder äußerlich – er nimmt einen Platz ein, kommt an.

Parzival ist im Laufe seiner Kindheit in der Einöde Soltane, von seiner Mutter Herzeloyde von der Welt abgeschirmt, in eine innere Unruhe geraten. Er lebt in der Natur und ist lediglich mit den Spuren der Tiere vertraut. Ihre Sprache kann er lesen. Mit den unterschiedlichen Menschen, mit Kultur und Gesellschaft ist er nicht bekannt. Er ahnt aber, dass es noch etwas anderes als das abgeschirmte Leben geben müsse. In ihm regt sich die Sehnsucht nach etwas Unbekanntem, Neuen. Er macht sich auf den Weg.

Er trifft auf drei Ritter in ihrer goldenen Rüstung – und er hält sie für Götter. Obwohl er nicht weiß, was er weiß, weiß er plötzlich ganz genau, dass er auf der Suche ist – bislang innerlich und nun auch äußerlich. Parzival verlässt seine Mutter und macht sich auf den Weg, er sucht König Artus – denn das hatten ihm die Ritter gesagt – wenn er so einer werden wolle wie sie, dann müsse er König Artus suchen und finden.

König Artus „findet“ er relativ schnell und er ergattert auch – wenn auch auf unlautere Weise – eine Rüstung. Ist er nun angekommen? Nein. Nun beginnt erst seine eigentliche Suche. Die Suche nach seinem Leben. Seiner Bestimmung. Die Suche nach Sinn. Er „ahnt“, dass es da etwas zu finden gibt. Aber er weiß nicht, was er sucht. Er lässt sich von seinem Pferd leiten. Die Zügel sind locker und das Pferd wählt den Weg – es führt ihn seinem Schicksal entgegen.

Im Laufe des Fortgangs der Geschichte trifft Parzival auf allerhand Figuren und Gestalten, auf Bezugspunkte, von denen er vorher nicht die leiseste Ahnung hatte. Sein Schicksalsnetzwerk wird sichtbar. Er begegnet, neben weiteren Figuren, seiner Cousine Sigune, die ihm wichtige Informationen über ihn selbst gibt, Gurnemanz, der sich ihm als Lehrer anbietet, Trevrizent, seinen Onkel, der ihn in die Gralsgesellschaft einführt, er begegnet Condwir amurs, die ihn die Liebe lehrt, Artus, der ihm zum Gewissen wird, er findet Freunde - Gawan -, er trifft seinen Bruder - Feirefiz - und erlebt manche Aventuire – manches Abenteuer, das aus der Zukunft auf ihn zukommt.

Einmal macht er sich bewusst auf den Weg. Nachdem er Condwir amurs in Pelapeire geheiratet hat, will er seine Mutter suchen, denn er will sie be-suchen und reitet fort. Was er aber findet, das ist der Gral. Er gerät nach Munsalvaesche auf die Gralsburg, die sich nur un-ge-sucht finden lässt. (Seinem gescheckten Bruder Feirefiz aus dem Morgenland geht es übrigens ähnlich: er reitet fort um seinen Vater zu suchen. Was er findet, das ist Parzival – sein Bruder.) Nachdem Parzival später verstanden hat, was er bei seinem ersten Be-such auf der Gralsburg versäumt hat, will er den Weg wieder-finden. Er „sucht“ den Gral – der sich nicht finden lässt.

An dieser Stelle des mittelalterlichen Epos wird deutlich, wie eng die Begriffe suchen und finden miteinander verknüpft sind und gleichzeitig, wie sehr sie voneinander entfernt sind.

Parzival macht beides, er gibt seine Suche auf und führt sie gleichzeitig fort – er „ahnt“, „spürt“, „wittert“ und geht so lange weiter, bis er „auf etwas tritt“. Seine Suche nimmt (vorerst) ein Ende als er endlich die Gelegenheit hat, seinen Onkel mit der berühmten Frage zu heilen – und damit seine eigene Unterlassungssünde zu sühnen.
Er sucht, er-sucht, ver-sucht, be-sucht, unter-sucht und findet, be-findet, emp-findet und er-findet – bis er bei sich selber ankommt.

Das Epos Parzival ist eine Geschichte des Suchens und Findens - des Irrens und Wirrens - und Pablo Picasso drückt in seinen Worten aus, um welchen Mut es geht, den man braucht um seinen Lebensweg zu gehen, in dem man ihn sucht und findet und wieder sucht und wiederfindet.

Ich suche nicht - ich finde.

Ich suche nicht - ich finde.
Suchen, das ist Ausgehen von alten Beständen
und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.
Finden, das ist das völlig Neue.
Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt.
Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.
Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen,
die im Ungeborgenen sich geborgen wissen,
die in der Ungewißheit, der Führerlosigkeit geführt werden,
die sich vom Ziel ziehen lassen
und nicht selbst das Ziel bestimmen.
Pablo Picasso

Dienstag, 25. August 2009

Menschen verleihen Menschen Bedeutung

Sigrid und Wolfgang Garvelmann gehören zu meinem Beziehungsnetzwerk – vor vielen Jahren sind sie in meinem Leben aufgetaucht und seitdem gehören sie dazu.

Im Laufe des Lebens begegnet man ja einer Menge Menschen. Und es ist überhaupt kein Problem, immer wieder Unbekannte, noch nicht Gekannte zu treffen. Meistens ist es eine „sachliche“ Frage oder „konkrete“ Aussage, die ein Gespräch zwischen Menschen beginnen lässt. Und ob sie einander wiedertreffen, hängt gemeinhin davon ab, ob Sympathie entsteht, Neugier, ob ein Funke überspringt – oder auch ein Rätsel sichtbar wird, eine Frage entsteht oder ein Vorhaben zu ergreifen ist – was dann zum Anlass wird, einander tiefer in die Augen zu schauen. Es bleibt aber ein Mysterium, wer wann wen trifft – und etwas daraus macht.

Sigrid und Wolfgang Garvelmann habe ich auf einem Autobahnparkplatz kennengelernt. Wir waren verabredet – obwohl wir uns nicht kannten, denn wir sollten zusammen zu einem bestimmten Treffen fahren. Unsere erste Begegnung stand also im Lichte einer langen Autofahrt über Deutschlands Autobahnen.

Auf dieser Reise erfuhr ich, dass Sigrid und Wolfgang Garvelmann gemeinsam ein heilpädagogisches Heim für seelenpflegebedürftige Kinder in Gaienhofen-Horn am Bodensee gegründet und es fast vierzig Jahre geführt haben. Wolfgang ist ursprünglich Arzt, Sigrid Säuglingskrankenschwester und Heilpädagogin. Sie hat bei Margarethe Wilke in Eckwälden „gelernt“ und dann bei Bernard Lievegoed im Zonnehuis in Holland gearbeitet, bevor das Haus Höri am Bodensee seine Arbeit aufnahm. Sie war, mit ihren sechs eigenen Kindern, die „Seele“ der heilpädagogischen Einrichtung. Wie sie mir nachdrücklich versichert, waren die seelenpflegebedürftigen Kinder die Lehrmeister ihres Lebensweges.

Sigrid und Wolfgang haben ihr Leben ganz und gar der Heilpädagogik gewidmet. Und da sie konträre Fähigkeiten und Charaktere mit in Ehe und Arbeit gebracht haben, Sigrid die „Praktikerin“ und Wolfgang der „Theoretiker“, bildeten sie eine erfüllende Ergänzung zueinander – wie sie mir schmunzelnd und über sich selbst lachend immer wieder erzählten.

Als wir uns kennenlernten stand unser gemeinsames Interesse an einem Treffen von Seminarteilnehmern, die sich alle mit den Inhalten des letzten Buches von Bernard Lievegoed „Über die Rettung der Seele“ beschäftigt hatten, im Vordergrund. Obwohl wir uns also „fremd“ waren, entstand direkt eine Nähe, die von den gemeinsamen Fragen, Nöten und Bedürfnissen getragen war. Seitdem verbindet uns eine Freundschaft besonderer Art, denn altersmäßig trennen uns gut vierzig Jahre.

Über diese Freundschaft lässt sich einiges sagen: sie währt nun schon viele Jahre, ist durch unterschiedliche Phasen gegangen, hat einige Meinungsverschiedenheiten ausgehalten, schließt einige Themen und Bereiche aus, wird aber vor allem durch eine unglaublich große Herzlichkeit getragen, die es uns ermöglicht, an vielen Gebieten des jeweiligen Lebens teilzunehmen und uns zu unterstützen. Man könnte es auch so sagen: Wir haben Bedeutung füreinander bekommen.

Sigrid Garvelmann ist eine kleine energievolle Frau mit leuchtenden Augen und schlohweißen Haaren, die dankbar auf ihr Leben blickt und die Dinge – damals wie heute – nimmt, wie sie sind. Für Wolfgang Garvelmann steht die Anthroposophie im Vordergrund. Er hat in seinem Haus ein kleines Turmzimmer, in das er sich nächtelang zurückzieht, um über elektronische Wege mit Freunden und Gefährten wichtige Fragen zu bewegen.

Bei unserem letzten Treffen hat mir Wolfgang Garvelmann sein neues Buch geschenkt. Und ich habe es gelesen. Ich habe es gelesen, weil er es geschrieben hat, deshalb hat es mich interessiert. Nicht, weil es so direkt „mein Thema“ ist. Zu Wolfgang Garvelmanns Netzwerk gehört Judith von Halle. Sie bewegt in der anthroposophischen Bewegung die Gemüter. Wolfgang Garvelmann hat sich mit ihr als Person und mit dem, was sie über ihre Christuserlebnisse berichtet, intensiv beschäftigt. Und da sie selbst und das, was sie präsentiert, für ihn Bedeutung haben, hat er diese Bedeutung öffentlich gemacht. Mit der Publikation seines Buches stellt er Judith von Halle als Zeitgenossin ins Licht und bekräftigt die Bedeutung ihrer Wirksamkeit.

Obgleich er sich als Autor mit persönlichen Statements zurückhält, ist seine Bewunderung nicht zu verkennen. Und nicht nur die Begeisterung über die Tatsache, dass Judith von Halle „da“ ist, sondern auch über die Richtigkeit und Wichtigkeit ihrer Mitteilungen. Es ist auch nicht das erste Buch, das Wolfgang Garvelmann dem Thema Christus widmet.

Die Werte, Wahrheiten, Haltungen und Sichtweisen, die Wolfgang Garvelmann für richtig, wichtig und gut hält, bekommen in seinem Buch eine allgemeingültige Bedeutung – denn er hebt sie über sich selbst - und natürlich über Judith von Halle – hinaus. Zur Thematik des Buches kann ich keine dezidierte, fachkundige Stellung nehmen – denn auf diesem Feld kenne ich mich gar nicht aus. Schreiben kann ich aber, dass Wolfgang Garvelmann ein Buch geschrieben hat, das auf sachlicher Ebene von großem Wert ist, denn es nimmt dem Leser viel eigene und mühselige Recherche ab. Nebeneinander werden nämlich die Aussagen von Anna Katharina Emmerick, Therese Neumann und Judith von Halle gestellt, die alle tiefgreifende Christuserfahrungen haben und hatten. Wolfgang Garvelmann zitiert, kommentiert und bettet diese Erlebnisse in seine Erkenntnisse ein.

Menschen verleihen Gedanken, Ideen und Überzeugungen Bedeutung.


Wolfgang Garvelmann: Sie sehen Christus. Anna Katharina Emmerick, Therese Neumann, Judith von Halle. Erlebnisberichte von der Passion und der Auferstehung Christi. Eine Konkordanz. Verlag am Goetheanum, Dornach/Schweiz, 2008.

Wolfgang Garvelmann: Ich bin bei euch. Christuserfahrung heute. Zeugnisse und Wege christlicher Offenbarung, Mystik und esoterische Schulung. Verlag Die Pforte im Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz, 1994.

Siehe auch im Internet: http://home.tiscalinet.ch/wolfgang.garvelmann

Montag, 17. August 2009

Verwandtschaft und Freundschaft – Bezug haben und Bezug nehmen

Heute bin ich mit der Frage erwacht, wie sich eigentlich Freundschaft und Verwandtschaft zueinander verhalten. Und während ich vor meinem Laptop sitze und beginne mir darüber Gedanken zu machen, schaut und lächelt mich Christine Ballivet von einem Foto aus an.

Ich denke: Jeder Mensch nimmt bei seiner Geburt einen Platz in einem Kaleidoskop von Beziehungen, zunächst rein verwandtschaftlicher Art, ein. Zu den verwandtschaftlichen gesellen sich im Laufe des Lebens auch freundschaftliche Verbindungen. In ihrer Bedeutung unterscheiden sich diese beiden Formen der zwischenmenschlichen Bezogenheiten - gibt es Kriterien, die den Unterschied zwischen Freundschaft und Verwandtschaft deutlich machen, und welche sind es?

Zu Beginn des Lebens stehen die verwandtschaftlichen Fakten eindeutig im Vordergrund. Jeder hat - normalerweise - Mutter und Vater, möglicherweise Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und so weiter. Die erste Feststellung betrifft also Tatsachen, die durch die Gegebenheit der physischen Geburt entstehen und auch festliegen. Das verwandtschaftliche Netz kann im Leben natürlich wachsen – oder auch schrumpfen – die spezielle Positionierung des Einzelnen bleibt aber definitiv und unumstößlich. Eine Mutter bleibt immer eine Mutter. Lebenslänglich.

Und ich denke weiter: Wenn ich mir das Netz anschaue, in dem ich lebe, dann wird sichtbar, wie viele verschiedene Rollen darin für mich Platz haben. Ich kann zum Beispiel gleichzeitig Mutter, Tochter, Schwester, Tante u.a.m. sein. Festhalten lässt sich, dass das verwandtschaftliche Netz meist vielschichtig ist, jedoch starr bleibt. Die Positionen zueinander sagen per se nichts darüber aus, welcher inneren Art die Verbindung ist. Fest liegt lediglich, dass eine Verwandtschaft vorliegt, wie die Beziehung aber gelebt wird, wie das emotionale Verhältnis untereinander ist, wird damit nicht gesagt. Das letzte Jahrhundert hat deutlich gemacht, dass die verwandtschaftlichen Bande nicht mehr so tragfähig sind wie sie es mal waren. Darum werden Freundschaften immer wichtiger. „Zählen“ gute Freunde also mehr als Verwandte?

Selbstgewählte Freundschaften haben einen anderen Duktus als gegebene Verwandtschaftsverhältnisse. Sie entstehen und entwickeln sich im Laufe des Lebens und spielen im Beziehungsnetzwerk vieler Menschen heute eine große Rolle. Freundschaften bauen wir schon als kleine Kinder auf, in der Schule, das ganze Erwachsenenleben hindurch und auch im Alter. Freundschaften können in jedem Alter begonnen werden – und auch enden. Sie sind fragil.

Und ich mache mir klar, dass es sehr unterschiedliche Arten von Freundschaften gibt, was sich schon durch die jeweilige Bezeichnung zeigt: da gibt es Arbeits-, Kindheits-, Frauen- oder Männerfreundschaften – um nur einige zu nennen -, enge und weitläufige Freundschaften, zufällige und innige Freundschaften, aktuelle und veraltete, kurzzeitige und jahrzehntewährende – hier ist jegliche Art der Nähe oder Ferne, der Bedeutung oder Zufälligkeit und des Zwecks möglich.

Freundschaften lassen sich also weder so exakt wie Verwandtschaftsverhältnisse definieren, noch sind sie unumstößlich. Einen interessanten Umstand finde ich, dass wir uns die Frage stellen können, ob wir Freunde waren, sind oder es werden wollen. Diese Frage lässt sich in Bezug auf Verwandtschaft nicht stellen. Der Unterschied zwischen Freundschaft und Verwandtschaft hat in erster Linie mit der Beständigkeit der Begriffe zu tun. Eine Freundschaft lebt aus dem freien Willen der Beteiligten. Sympathie, Wertschätzung und Zuneigung spielen dabei eine Rolle. Freundschaften werden „gewollt“ und müssen bewusst gepflegt werden – gerade daraus kann eine Verbindlichkeit entstehen, die über Verwandtschaft hinausgeht.

Verwandtschaft entsteht aus anderen Gründen als Freundschaft und bleibt in ihren Strukturen statisch. Ganz abgesehen davon, in welcher inneren Beziehung die Beteiligten zueinander stehen. Die Gestaltung der Beziehung, sowohl auf verwandtschaftlicher als auch auf freundschaftlicher Ebene, obliegt aber immer den Beteiligten. Gestaltbar ist jede Art der Verbindung zwischen Menschen. Aus Verwandten können Freunde werden und aus Freunden (angeheiratete) Verwandte.

In unserem emotionalen Leben kann die Bedeutung von Verwandtschaft und Freundschaft eine ähnliche Rolle spielen, muss aber nicht. Wie schon gesagt, impliziert eine Freundschaft mitunter deutlicher Wärme, Interesse und Zugewandtheit. In der Zuweisung des Freundesbegriffes schwingt die emotionale Bindung mit. Ein Freund bleibt aber nicht unbedingt ein Freund – obwohl die Zeit oft dazu beiträgt. Feindschaft kann sowohl unter Freunden als auch unter Verwandten entstehen. Der Unterschied der Folge davon ist, dass eine Freundschaft daran zerbricht – die Verwandtschaft aber nicht.

Und nun frage ich mich, ob der Unterschied zwischen Verwandtschaft und Freundschaft also der ist, dass das erstgenannte eine unumstößliche, allerdings „nur“ lebenslängliche und manchmal auch bedeutungslose Tatsache ist, während das zweitgenannte zukunftsträchtig und bedeutungsvoll ist, immer wieder gepflegt, erneuert, errungen und lebendig gehalten werden kann – und das auch über den Tod hinaus?

Christine Ballivet „war“ eine Freundin von mir. Wir haben uns gekannt und gemocht, haben zusammen gearbeitet und gelacht. Nicht, dass wir uns gestritten hätten, oder dass die Freundschaft zerbrochen wäre, nein, es gibt einen anderen Grund warum ich die Vergangenheitsform gewählt habe und mich gleichzeitig frage, ob diese Formulierung so stimmt. Christine lebt nicht mehr, sie ist vor ein paar Monaten gestorben. „Ist“ sie dann eine Freundin, oder „war“ sie eine? Fast mutet es ja an, als ob sie durch ihren Tod von der freundschafts- auf die verbindliche Ebene der Verwandtschaft gewechselt ist. Denn, ich fühle nichts anderes als dass sie eine Freundin ist. Und immer bleiben wird.

Die Gefährtin auf dem irdischen Plan ist in die geistige Welt eingegangen - gibt es auch das, eine Freundschaft zwischen Lebenden und Toten?

Montag, 10. August 2009

Stimmen des Doppelgängers

Seit Tagen will ich einen Text über das Thema „Doppelgänger“ schreiben. Ich komme aber – so würde man es im Ruhrgebiet nennen – einfach nicht in die Pötte. Die Zeit vergeht, es passiert nichts, ich bin wie gelähmt und beginne schon, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es diese Woche keinen Blog-Text gibt… Wer oder was versucht mich davon abzuhalten diesen Text zu schreiben, ist es die Wirkung meines Doppelgängers?

Die Vorstellung einen Doppelgänger zu haben, finde ich schon immer sehr unangenehm. Ich kann aber nicht verneinen, dass sich seine Existenz, sowohl bei mir selber als auch bei anderen, immer wieder deutlich bemerkbar macht. In der Psychologie, der Pädagogik, der Literatur und der Karmaarbeit ist das Phänomen bekannt und von vielerlei Autoren beschrieben worden.

Der Konfliktforscher Glasl beschreibt ihn so: Der Doppelgänger „ist die Wirkung meines Denkens, meines Fühlens, meines Wollens und meines Tuns, wann immer diese seelischen Tätigkeiten von meinem Selbst nicht durchdrungen und nicht geleitet worden sind. Wie mein Schatten begleitet und verfolgt mich mein Doppelgänger auf Schritt und Tritt und wird mir zur Last. Ich trage ihn wie eine Bürde auf meinem Rücken mit mir und kann mich schwer von ihm trennen.“ (Glasl, S. 35)

Die Seite in mir, die sich der Doppelgänger nennt, entsteht also ganz selbstverständlich im alltäglichen und sozialen Leben und gehört – auch über eine Inkarnation hinaus – fest zu mir. Unbewusstes, Unverarbeitetes, Traumatisches, Unabgeschlossenes und andere ungeklärte Situationen führen (laut Untersuchungen) dazu, dass ich Anteile in mir habe, die sich als Schatten zeigen. Dieser Gedanke erklärt, warum es so schwer ist, einen Doppelgänger los zu werden – aber, darum geht es ja vielleicht auch gar nicht.

Wenn ich mich auf die Existenz des Doppelgängers einlasse, dann kann ich seine Erscheinungsformen, sein Handeln und eben auch seine Wirkung auf mich beobachten, kann sie untersuchen. Wann tritt er auf? Wo? Oder auch, wodurch? Wie mischt er sich ein? Und was will er eigentlich?

Ein Doppelgänger hat meines Erachtens zwei Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen: Entweder spricht er in mir – ist eine der vielen Stimmen, die sich in meinem Inneren zu Wort melden und oft gegensätzliche Vorhaben und Meinungen vertreten. So ist es mir in diesem Fall gegangen. Da gab es eine Stimme die gesagt hat: „Ach, schreib den Text doch später.“ Oder: „Was hast du überhaupt dazu zu sagen?“ Oder: „Darüber gibt es doch schon genügend Texte.“ Oder: „Überlege es dir morgen noch mal.“ Ich könnte diese Aufzählung weiterführen. Die Stimmen, die gegen diese Ansicht sprachen sind erst jetzt, seitdem ich tatsächlich schreibe, stärker geworden.

Der Psychologe und Kommunikationstrainer Friedeman Schulz von Thun nennt dieses Stimmen-Phänomen der inneren Pluralität, der gegenläufigen Strömungen oder schlicht der Stimmenvielfalt das „innere Team“ und er beschreibt in seinen Büchern sehr überzeugend, wie die Phänomene aussehen und vor allem, wie man damit umgehen kann. Denn, sie sind völlig normal.

Das ist die eine Möglichkeit, die innere, den eigenen Doppelgänger wahrzunehmen. Die andere ist dementsprechend die äußere. Durch unser eigenes Verhalten „provozieren“ wir unsere Umgebung – unsere Mitmenschen! – so, dass sie den Doppelgänger in uns herausfordern, angreifen, entlarven oder verletzen. Da gibt es Bemerkungen oder Verhaltensweisen, die bei genauer Betrachtung, nur an meinen Doppelgänger gerichtet sein können – oder vom Doppelgänger des anderen ausgesendet werden.

Neulich habe ich jemandem etwas erzählt und der schaute mich plötzlich an und sagte so ganz beiläufig, „deine Stimme hat in dieser Erzählung einen unangenehmen, inquisitorischen Klang“ und ich realisierte, dass mein Doppelgänger, der immer Recht haben will und der sowieso alles besser weiß, durch mich gesprochen hat. Nun kann ich über so einen Satz natürlich nonchalant hinweggehen – so, als wenn nichts gewesen wäre – oder ich halte inne und sortiere mich neu, denn, so wollte ich mich ja gar nicht zeigen. In diesem Fall bin ich zwar erschreckt über die Bemerkung, aber gleichfalls dankbar.

Eine weitere Möglichkeit, in meiner Alltags-Stimme mein höheres Ich von meinem niederen Ich zu unterscheiden ist, den Bemerkungen meiner Umgebung gut zuzuhören. Jeder Satz, den wir hören, hat vier Klänge, schwingt auf vier Ebenen. Schulz von Thun nennt es in seiner Darstellung das Vier-Ohren-Modell. Es geht um den Sachinhalt, (den ein Satz transportiert), die Selbstkundgabe, (die der Sprecher damit über sich macht), die Beziehung, (die der Sprechende und der Zuhörende in diesem Moment zueinander haben) und den Appell (den der Sprechende durch seine Mitteilung an den Zuhörenden richtet). Je mehr wir uns darin schulen diese vier Klänge voneinander zu unterscheiden, umso weniger wird ein Doppelgänger unbewusst durch uns sprechen – oder besser: krakeelen – können. Aber nicht nur, dass wir selber bewusster mit unserem eigenen Sprechen umgehen werden, sondern wir können auch die verschiedenen Botschaften unseres Gegenübers klarer differenzieren.

Mein eigenes „karmisches Unordnungs- oder Ausweichwesen“, so wie Coenraad van Houten den Doppelgänger nennt (S. 19), ist jetzt stiller geworden, weil es bemerkt, dass ich es – trotz allem - achte. Ich habe mich zwar über sein Anliegen hinweggesetzt, allerdings nicht mit einem theoretischen Text – so, wie mir das erst vorschwebte – sondern, durch das Beschreiben dessen, wie es mir mit meinem Doppelgänger konkret ergangen ist. Sein Wesen, das erlöst werden möchte, gesteht mir jetzt sogar mit leiser Stimme zu, dass ich ja vielleicht doch in der Lage bin, etwas über Doppelgänger zu schreiben.

Glasl, Friedrich: Konflikt Krise Katharsis und die Verwandlung des Doppelgängers. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2. Auflage 2008.

van Houten, Coenraad: Der dreigliedrige Weg des Schicksalslernens. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2003.

Schulz von Thun, Friedemann:
- Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen.
- Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung.
- Miteinander reden 3: Das „innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg.

Montag, 3. August 2009

Das Buch als vertikaler und horizontaler Kulturträger

Bücher - und damit auch ihre Inhalte - gehören zu unserem Alltagsleben. Sie sind normale Gebrauchsgegenstände, die jeder von uns kennt. Ich nehme an, dass die Leser dieses Blogs alle relativ viele Bücher besitzen. Jeden Tag werden in Deutschland derzeit 800 neue Bücher publiziert – heißt es im Deutschlandfunk. Das sind, wenn man fünf Tage pro Woche veranschlagt, etwa 208 000 Bücher im Jahr. Neue (!) Bücher.

Rudolf Steiner sagte in einem Vortrag am 10.10.1913 in Bergen: "Bücher können in der geistigen Welt nicht gelesen werden. [...] erst dann, [...] wenn das, was in den Büchern steht, lebendiger Gedanke der Menschen wird, dann lesen die Geister in den Gedanken der Menschen." Was bedeutet diese Aussage für den lesenden Menschen? Wie hat sich das Buch entwickelt und warum sind Veröffentlichungen eigentlich so wichtig?

Die Geschichte des Buches, des geschriebenen Wortes - und damit der Bewusstseinsentwicklung der Menschen - ist lang. Bereits vor 5000 Jahren gab es in Ägypten beschriebene Papyrusrollen. Dann kam, zu Beginn des ersten Jahrhunderts, der Gebrauch von Schreibtafeln aus gespaltenem Holz, der sogenannte Codex dazu. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es „Papier“. Wenig später hat sich in Europa der Buchdruck entwickelt. Neu ist jetzt, etwa seit dem Jahr 2000, dass sich auch der digitale Buchdruck verbreitet hat. Alle diese verschiedenen Ausprägungsformen des Buches beinhalten aber im Wesentlichen das gleiche: Schrift. Inhalte. Gedankliche Darstellungen. Text. Geschriebene Worte. Kurz: Schriftsprache.

In Europa hat seit dem 13. Jahrhundert, mit dem Aufblühen von städtischen Kulturen, die Schriftsprache ihren Aufschwung erfahren. Was zunächst nur dem Klerus oder Adel zugänglich war, wurde in die Volkssprache übersetzt und weiteren Teilen der Bevölkerung zugänglich. Schriftlich niedergelegte Texte - Bücher - bekamen immer mehr Bedeutung. Dieser Umstand war für die Verbreitung von Wissen nicht unerheblich. Reformation und Aufklärung haben davon gezehrt. Heutzutage ist es selbstverständlich, dass wir lesen und schreiben können, dass ein gedanklicher Austausch über das geschriebene Wort stattfindet, und vor allem, dass jeder, der das will, an dem entsprechenden Diskurs teilnehmen kann. Bücher gibt es zu kaufen und zu leihen. Wissen ist - über die schriftliche Form - allgemein zugänglich.

Geschriebenes verbreitet sich zum einen horizontal über die Erde. Das geschieht über soziale Netzwerke, öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Universitäten und andere Bildungsstätten sowie weitere Wege, die direkt über den Menschen laufen. Wichtig scheint mir aber auch der Blick auf die vertikale Ausdehnung zu sein. Das ist die andere Richtung, wie sich Schriftlichkeit – und damit Kultur – ausbreitet, weiterentwickelt und erhält. Der Mensch ist in seiner Gesamtheit - Körper, Seele und Geist - und in seiner Zeitlichkeit - etwa 80 Jahre - zwischen Himmel und Erde gestellt. Das, was wir Menschen in Büchern lesen, wird durch unser Menschsein auch der Ober- sowie der Unterwelt zur Verfügung gestellt. Die Wesen dort lesen keine gedruckten Buchstaben – aber sie lesen in unseren Herzen.

Bücher werden geschrieben, um „Inhalte“ zu verbreiten. Über ein Buch kann das, was ein Autor sagen möchte, in viele Hände, Herzen und Köpfe gelangen. Daraus kann ein stilles oder auch ein öffentliches Gespräch entstehen. Meinungen, Sichtweisen oder Einsichten können kundgetan werden. Geschichten können erzählt werden. Die Kunst des Wortes, der Sprache kann sich durch ein Buch in ihrer reinsten Form aussprechen. Sprache - egal in welcher Form und welchen Inhalts - schafft Kultur. Die Inhalte, die über das geschriebene Wort vermittelt werden, erreichen den Menschen dann, wenn er sie sich zu Eigen macht. Wenn er eigenständige Gedanken dazu entwickelt, sich selbstständig ein Urteil bildet und sich kreativ zu den Inhalten stellt.

Neben dem traditionellen Buch sprechen wir aber auch davon, dass sich Lebensgeschichten, kulturelle Ereignisse oder weltliche Geschehnisse in die Erde einschreiben. Die Erde - die Materie - als unauslöschliches „Buch“. Und zum anderen gibt es den Ausspruch, dass etwas ins „Buch des Lebens“ geschrieben wird – dies ist ein Hinweis auf den Himmel. Zur horizontalen Verbreitung von Geschriebenem, durch menschliche Netzwerke, kommt die vertikale Auseinandersetzung dazu. Es ist der Diskurs zwischen den Göttern, den Menschen und der Unterwelt. Es ist das, was Rudolf Steiner meint, wenn er so lapidar sagt: „Bücher können in der geistigen Welt nicht gelesen werden.“ Wir Menschen sind dazu aufgefordert, die Gedanken, die über ein Buch verbreitet werden, lebendig in uns zu tragen und den Göttern anzubieten. Sie mögen in unseren Herzen das lesen, was wir - unter Umständen - über Bücher erfahren und für wichtig, richtig und gut erachtet haben.

Am 27.7.2009 war der 100. Geburtstag der Dichterin Hilde Domin. Bei der Gedenkveranstaltung in der Stiftskirche in Tübingen, in der die Dichterin noch vor fünf Jahren selbst gelesen hat, wurden einige ihrer Gedichte vorgetragen. Das, was sie der Menschheit durch die Veröffentlichung ihrer Gedichte als Buch geschenkt hat, ist an diesem Abend durch die Herzen anderer Menschen der geistigen Welt angeboten worden.

Das Buch als geistiger Kulturträger – nicht nur in horizontaler Ausrichtung sondern auch in vertikaler.

Montag, 27. Juli 2009

Zwei Häuser am Deich. Die Entstehung von Bedeutung

Häuser werden von Menschen gebaut, weil Menschen eine Behausung brauchen. Man nennt sie auch die dritte Haut. (Wenn man der Etymologie des Wortes nachgeht, stößt man auch auf Begriffe wie „Schutz“, „umhüllen“ (indogerm.), oder das „Bedeckende“ (althochdt.)) Die Eigenart von Häusern ist es, dass sie sich nicht (oder nur sehr selten) vom Fleck bewegen. Menschliche Wohnhäuser bilden einen Fixpunkt. Wenn einmal ein Haus gebaut ist, dann kann es gut und gerne den Menschen, die darin wohnen, jahrzehntelang eine Unterkunft bieten. Den beweglichen Part dieser Kombination von Gebäude und Bewohner bilden die Menschen. Sie können ein- und ausgehen, ein- und ausziehen. Und so beherbergen Häuser im Laufe der Zeit auch oft Scharen von Menschen, die einander gar nicht kennen. Oder einander nicht kannten. Denn die Lebensdauer eines gut gebauten Hauses überdauert die der Menschen um ein vielfaches. Jedes Haus beherbergt aber ein spezifisches Innenleben, es hat neben der äußeren auch eine innere Geschichte, die in Abhängigkeit von den Menschen, die es bewohnen steht. Ohne handelnde Menschen keine Geschichte von Bauten – weder äußerlich noch innerlich.

Heute möchte ich meinen Blick auf zwei Häuser richten, die mich betroffen machen.

Sie stehen beide in Norddeutschland. Und sie stehen beide direkt am Deich zur Nordsee. Das eine auf dem Festland und das andere auf einer Insel. Es sind beides bescheidene aber typische Häuser für die Gegend. Äußerlich fallen sie nicht auf. Sie sind nicht besonders groß, aber auch nicht winzig klein, es sind einfache Friesenhäuser. Gemeinsam ist ihnen noch, dass sie von jeweils einer Person bewohnt werden. In dem einen Haus wohnt mein Onkel väterlicherseits und in dem anderen meine Tante mütterlicherseits.

Die Geschichte des Hauses auf der Insel beinhaltet ein Familienleben. Fünf Kinder sind dort aufgewachsen. Und weil andere Menschen so gerne Ferien am Meer machen, sind die Kinder damals - in den Sommermonaten - in den Garten gezogen, um fremden Gästen einen Platz im Haus zu bieten. Und mit diesem Umstand ist die Geschichte des Hauses schon umrissen. Es hat sich in ein Gästehaus verwandelt. Ist schon seit vielen Jahren zu einem gemütlichen Gästehaus mutiert. Heute lebt fest nur noch meine Tante dort – und das seit vierzig Jahren. Aber die Gäste gehen ein und aus. Was wird aus einem Haus, das von so vielen verschiedenen Menschen bewohnt wird? Was entsteht aus dem Ein- und Ausgehen?

Das Haus birgt eine spezielle Atmosphäre, die alles andere als kalt zu nennen ist. Aber es enthält Möbel, die von jedem genutzt werden. Und gerade das sagt schon etwas aus. Möbel, die von unendlich vielen Menschen benutzt werden. Schränke, die immer wieder neu ein- und ausgeräumt werden. Funktionalität – oder besser: Zweckmäßigkeit - steht im Vordergrund. Das Haus bietet in dieser Funktion Schutz. Und die Innenausstattung eröffnet Möglichkeiten. Man kann dort schlafen, kochen, essen, lesen, seine Sachen verstauen und so weiter.

Die Bedeutung dieses Hauses entsteht durch die Menschen, die darin etwas erleben. Das Haus ist ein „Möglichmacher“. Die Gegenstände rufen dazu auf, Bedeutung zu erschaffen, denn von sich aus sprechen sie nicht. Ich selber bin oft in diesem Haus gewesen. Schon als Kind. Und als ich jetzt wieder dort war, sind allerlei alte Erinnerungen, Gefühle des Beheimatet seins in mir aufgestiegen.

Da gibt es an der Badtür, die in der Mitte eine Glasscheibe hat, einen Vorhang. Er hängt schon sehr lange dort. Ich kenne ihn schon aus Kindertagen. Es ist ein hellgelber, mittlerweile schon sehr alter und ausgewaschener Vorhang, der Stickereien in der gleichen Farbe trägt. Es handelt sich wahrlich nicht um ein besonders schönes oder ausdrucksstarkes Stück Stoff. Nein, es ist das Gefühl, das in mir entsteht, wenn ich ihn – so nebenbei - wahrnehme. Damit wird etwas Vertrautes berührt. Obwohl sicher Hunderte von Menschen diesen Vorhang kennen, bedeutet er etwas – irgendwie gehört er zu meiner Geschichte.

Die Verbindung von Gegenständen und Menschen ist die Bedeutung, die sie einander verleihen. Das Haus an sich, oder der Gegenstand an sich strahlt gar nichts aus. Aber die Verbindung, das, was zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen mir und dem Badezimmertürenvorhang „geschieht“, sich irgendwie eingenistet hat, das hat Bedeutung.

Ganz anders ist die Situation in dem Backsteinfachwerkhaus mit dem Reetdach auf dem Festland. Dort gehen selten Menschen aus und ein. Bis vor gut drei Jahren - und schon seit Jahrzehnten - wurde das alte Friesenhaus von meinem Onkel und seiner Frau bewohnt. Aber sie ist bereits verstorben. So lebt nun physisch nur noch mein Onkel in dem Haus. Aber so ist es nicht. Nein. In diesem Haus ist es ganz anders. Seine Frau ist deutlich anwesend. Nicht nur, dass überall Bilder von ihr hängen – was schon sehr prägend ist – nein, es ist die Stimmung, die Atmosphäre, die Aura, von der das Haus geprägt ist. Mein Onkel ist Künstler. Durch und durch Künstler. Und das Haus ist gestaltet. Jede Ecke, jeder Winkel. Kreativität pur. Da kommt nichts ungeschliffen aus dem Baumarkt. Nein, jede Kachel ist selbst bemalt, jeder Schrank speziell für diese Ecke gebaut, das Tor gestaltet, die Tür, der Fussboden. Es gibt in diesem Haus nichts Zufälliges. Und nichts Belangloses. Nein, hier ist Gestaltung – ja, Bedeutung! – pur anzutreffen.

Und bei allem was geschieht, ist die verstorbene Frau meines Onkels dabei. Sie ist eingeladen, geistig dabei zu sein. Sicher hat sich in den letzten drei Jahren an dem Haus etwas verändert – aber bestimmt nicht etwas, was meine Tante ausschließen würde. Ohne die beiden wäre das Haus ein Museum. Ein SEHR interessantes - auch bizarres - Museum. Aber so, mit ihnen, ist es ein Lebensort. Ein Ort voller individueller, spezieller und eigener Bedeutung. Es ist etwas besonderes, daran teilnehmen zu dürfen. Auch dieses Haus lädt ein – aber ganz anders als das auf der Insel. Es lädt ein, an der Bedeutung teilzunehmen, die die Gegenstände für die anderen haben.