Freitag, 31. Dezember 2010

Weihnachtsfrage VIII

Wie fühlst du dich, wie geht es dir - im Schnittpunkt zwischen Gestern und Morgen, zwischen dem vergehenden und dem kommenden Jahr?

Donnerstag, 30. Dezember 2010

Weihnachtsfrage VII

Was stellst du dir vor, wenn du an die Zukunft denkst - den Zeitenstrom der vor dir liegt - welche Ahnungen - oder sogar Intentionen - hast du?

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Weihnachtsfrage VI

Welche Rätsel beschäftigen dich zwischen Himmel und Erde, wem oder was willst du nachgehen?

Dienstag, 28. Dezember 2010

Weihnachtsfrage V

Was bereust du, was hast du vergessen, was willst du anders machen?

Montag, 27. Dezember 2010

Weihnachtsfrage IV

Was bedeutet dir Weihnachten - die heilige Zeit - was verbindest du damit und wonach sehnst du dich wirklich?

Sonntag, 26. Dezember 2010

Weihnachtsfrage III

Worauf wartest du - wenn du von dir auf die Welt schaust, und aus der Welt auf dich schaust - und was erhoffst du dir von deiner Erwartung?

Samstag, 25. Dezember 2010

Weihnachtsfrage II

Welche Bilder entstehen in dir, wenn du zurückschaust, wenn du an Weihnachtsfeste deiner Kindheit denkst?

Freitag, 24. Dezember 2010

Weihnachtsfrage I

Was wünschst du dir, wem oder was möchtest du zu einer Geburt verhelfen?

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Zwischen den Zeiten: Fragen für die heiligen Nächte 2010/11

Liebe Leserinnen und Leser, Fragen bewegen. Sie erhellen, beleuchten, führen und leiten uns – wenn wir das wollen. Sie lassen uns die Vergangenheit verstehen, tragen dazu bei, die Gegenwart zu leben und die Zukunft zu gestalten. Fragen eröffnen innere, und manchmal auch äußere Räume, Fragen führen in die Tiefe, in die Höhe und in die Weite.

Ich habe für die Weihnachtszeit, die heiligen Nächte, Fragen vorbereitet. Und ich werde sie, beginnend mit dem 24.12., jeweils nachmittags auf meine Blogseite stellen. Mein Wunsch und meine Vorstellung sind, dass die Nacht diesen Fragen innere Räume zur Verfügung stellt, in denen sie sich bewegen können. Hiermit möchte ich euch alle herzliche einladen, daran teilzunehmen, diese Fragen zu lesen, sie mitzunehmen, ihnen nachzulauschen und darauf zu achten, was entsteht.

Fragen können von innen aus uns selber geboren werden oder von außen auf uns zu kommen. Sie können uns umringen und neue Wege zeigen. Es gibt Fragen, die sich auf die gedankliche Ebene beziehen, genauso wie auf die gefühlsmäßige oder die willentliche Ebene. Fragen können wie innere Motoren wirken, die ganze Berge versetzen.

Wir leben heute in schnellen Zeitstrukturen, in einer scheinbaren Antwortkultur. Überall gibt es Fachleute, die darum bemüht sind, unsere alltäglichen Fragen schnell zu beantworten, Nöte zu beseitigen und Unsicherheiten abzumildern. Meistens spielt dabei das Geld eine Rolle. Aber das ist nicht alles, denn es gibt Fragen, die sich nicht einfach beantworten oder organisieren lassen. Fragen, die einen offenen Raum erbitten, die das Persönliche, Unübliche, Ahnende, Träumerische oder Unvollständige suchen. Fragen, die getragen werden wollen.

Die Weihnachtszeit ist eine besondere Zeit dafür, denn die Welt hält einen Moment inne. Diese Zeit kann eine Stille entstehen lassen, unser Herz öffnen und innere Räume ermöglichen. Egal wo wir sind, egal was wir machen. Es heißt, dass wir in den heiligen Nächten eine unbewusste Begegnung mit unserem höheren Selbst haben können. Es ist eine Zeit, in der sich Himmel und Erde nah sind. Eine Zeit des Rückblicks und des Vorblicks, eine Zeit des Dazwischens, ein Zwischenraum. Aber auch eine Zeit, in der der Moment, die Gegenwart von besonderer Bedeutung ist. Es sind Tage zwischen Gestern und Morgen, und damit Tage der Gegenwärtigkeit - Vergangenheit und Zukunft verschmelzen im Jetzt.

Freuen würde ich mich über jede Art von Reaktionen auf die Fragen, die ich stelle. Das kann anonym oder mit Namen sein – gerne natürlich als öffentlichen Kommentar, damit alle daran teilhaben können, die das wollen. Es können Antworten sein, Verweise, Geschichten, Träume, Bilder, Gedichte, Zitate, Gedanken, Gefühle, Willensimpulse, weitere Fragen, oder sonst etwas… all dies muss nicht „verständlich“ sein, nicht erklärt oder begründet werden. Es geht gerade um das, was die Fragen auslösen, wohin sie euch lenken, was sie mit euch machen.

Meine Weihnachtsfragen für die heilige „Zwischenzeit“ kommen aus drei Bereichen: aus dem Bereich des Wunsches / der Sehnsucht, dem Bereich der Vorstellung / des Vorsatzes und aus dem Bereich der Entscheidung / des Entschlusses. Es sind die Fragen, die eine Verbindung zwischen Individuum und Welt schaffen, in dem sich die Welt im Individuum ausdrückt und umgekehrt. Und es sind Fragen, die den Zeitenstrom erlebbar machen, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft leiten. (Wer die Menschenkunde von Rudolf Steiner kennt, wird erahnen, warum ich diese Bereiche gewählt habe.)

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich eine schöne Weihnachtszeit, mit vielen Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen und ein gutes, neues Jahr voller Fragen und Antworten! Herzlich, Sophie Pannitschka

Samstag, 18. Dezember 2010

Fügung. Öffnung im Dunkeln

Die Zeit vor Weihnachten ist weder von Ruhe noch durch besonders viel Besinnlichkeit geprägt. Anna versucht trotzdem in ihrer Mitte zu bleiben, aber sie spürt, dass sie schwankt, manchmal verliert sie den Überblick. Der Felsen in der Brandung ist zu einem wankenden Pfeiler im Wind geworden. Wenn sie die Augen schließt, spürt sie ihre Müdigkeit, ihre Traurigkeit, ihre Verlorenheit – zwischen all dem, was zu tun ist.

Gewöhnlich fällt sie in einen tiefen Nachtschlaf und erwacht nur durch einen schrillen Wecker in der Dunkelheit. Dieses Mal aber erwacht sie plötzlich, mitten in der Nacht – von sich aus – und es ist sehr finster um sie herum. Innerlich aber erahnt sie unmittelbar das Licht, das kleine, das da leuchtet. Sie spürt die Wärme ihres Körpers, hört ihr Herz klopfen, fühlt sich leicht und frei. Kurz bevor sie sich wieder umdrehen will um weiterzuschlafen, entscheidet sie sich wach zu bleiben.

Gegen die mahnenden Worte ihres Kopfes, der sich einschalten will und rationale Warnungen produziert: Sie solle schlafen, sich ausruhen für den kommenden Tag, Kräfte generieren, eben SCHLAFEN. Aber Anna ist wach. Und sie nimmt das an. Sie liegt ganz still und spürt, wie sich ihr Herz öffnet. Sie lauscht auf die Melodien der Nacht. Klingende Worte.

Die Nacht schenkt ihr also eine Freistunde, sie bekommt Urlaub – von ihrem Nachtschlaf – und nimmt das zögernd an. Sie erlebt den offenen Raum, der ihr gereicht wird und tritt in ihn ein. Sie steht auf und stellt sich ans Fenster. Es ist winterlich. Kalt. Und die Sternenfülle leuchtet warm und kalt am nächtlichen Himmel. Licht und Finsternis – so nah zusammen. Genauso wie die Leere und die Fülle, die sie gleichzeitig in sich spürt. Die Ruhe und der Auffuhr, die Bewegung und das Innehalten.

Schwierig wird es immer dann, wenn die Gegensätze miteinander ringen, wenn sie sich von ihrer Gegenseite angegriffen fühlen. Um ihren Platz, ihre Souveränität kämpfen. Wenn die gegenseitige Anerkennung ausbleibt. Ohne Licht kein Schatten, ohne Schatten kein Licht. Das lässt sich denken. Welche Gefühle entstehen aber, wenn diese Weisheit nicht gedacht, sondern erlebt wird?

Anna spürt, wie sie innerlich weiter wird, sich ausdehnt. Sie steht noch immer am Fenster, ganz still. Und sie nimmt Anteil an der Vergangenheit und an einem Hauch der Zukunft, sie fühlt den Zeitstrom. Und spürt plötzlich, dass sie zu einem kleinen Stern wird. Sich einklinkt. Mit dazugehört. Still laufen ihr die Tränen die Wangen hinunter, kleine Sterne auf die Erde.

Menschen erscheinen auf ihrer Herzinnenseite. Und sie spürt, wie sich ihr Schicksalsnetzwerk in ihr zu regen beginnt – obwohl die Menschen alle an irgendeinem Ort schlafen werden, träumen… vermutlich. Oder gibt es noch jemanden, der jetzt wach ist? Den Sternenhimmel betrachtet? So wie sie - und sich von seinem eigenen Herzen erobern lässt?

Wie Sternschnuppen kommen die Worte. Fügen sich. Und fügen sie. Ganz so, wie es Anna aus einem Gedicht von Erich Fried kennt. Und sie dankt, ja wem?, vielleicht sich selbst – für diese nächtliche Stunde, allein, am Fenster mit dem winterlich kalten Sternenhimmel, der sie wieder zusammenfügt.

Fügungen

Es heißt
ein Dichter
ist einer
der Worte
zusammenfügt

Das stimmt nicht

Ein Dichter
ist einer
den Worte
noch halbwegs
zusammenfügen

wenn er Glück hat

Wenn er Unglück hat
reißen die Worte
ihn auseinander

Erich Fried

Samstag, 4. Dezember 2010

Taubenblau und Morgenrot. Sie und Er

Sie stieg an einem taubenblauen Nachmittag, dessen Farbe sich langsam ins Gräuliche verwandelte, aus dem Zug. Das letzte Sonnenlicht des kurzen Tages rang noch mit den Wolken, die sich kräftig in den Vordergrund schieben wollten. Es war die Stille vor einem Gewitter, die jeden Schritt gewichtig erscheinen ließ. Sie wandte sich westwärts, um die Glut am Himmel, so sie denn erscheinen würde, nicht zu verpassen. Wer würde siegen, die letzten Sonnenstrahlen oder die ersten Regentropfen? Hinter ihr lagen die Stunden der Reise, vor ihr die der Begegnung. Sie schlang ihren grauen Schal mehrmals um sich und blickte mit ihren blauen Augen in die bekannte Richtung.

Er war in der ersten Morgenröte am Flughafen angekommen. Der Himmel schien noch unberührt und es war sichtbar, dass die Vögel ihre Freiheit genossen. Es war noch Nacht gewesen, als er aufgestanden war, nun war er froh, dass ihn das Licht des Tages langsam umschlang. Er genoss es, den Vögeln am Himmel zuzuschauen, wie sie ihre Kreise zogen und ihre Flüge weiter werden ließen. Er selbst fühlte sich elend, mit seiner Tasche in der Hand und dem Hut auf dem Kopf. Es würde eine Tortur werden. Aber er war bereit. Tief sog er die Luft in seine gemarterten Lungen, bevor er das Flugzeug bestieg, das ihn in die alte Heimat bringen würde.

Sie lief ohne ihr Gepäck durch die alten Straßen. Sie hoffte, dass sie noch eingelassen werden würde. Die Öffnungszeiten waren ihr nicht geläufig. Sie kannte die Anlage nur aus der Zeit, als darin noch gelebt wurde. Als es noch ein Jetzt gab, eine lebendige, arbeitsame und harte Gegenwart. Als sich die Zeitströme noch bewegten, die Zukunft sich der Gegenwart immer wieder aufs Neue näherte und sich durch sie gebären und befeuern ließ, bevor sie zur Vergangenheit wurde. Nun gab es nur noch den Rückblick – den Blick zurück. Alles war Vergangenheit geworden, die Gegenwart längst gestorben und die Zukunft unerreichbar fern. Das mittelbare Leben hatte aufgehört, die Anlage entblößte ihre Gemäuer für Besichtigungszwecke – gegen ein geringes Eintrittsentgelt.

Er schlief nach dem Start des Flugzeugs ein. Wirre Träume durchdrangen sein Inneres. Ihm wurde schwindelig davon. Als er erwachte wusste er, dass er eine wichtige Mitteilung bekommen hatte. Wie konnte er sich daran erinnern, was war es gewesen? Panik überkam ihn. Er blickte sich um und sah die Mitreisenden an. Keinen von ihnen hatte er je vorher gesehen. Er hatte sein Zeitgefühl verloren und er wusste nicht, wo er war. In diesem jämmerlichen Zustand, den er auf seine Gedankenlosigkeit schob, schloss er die Augen wieder, um vor der Vergangenheit und der Zukunft in einen weiteren Traum zu fliehen.

Sie…

Er…

Taubenblau und Morgenrot.

Samstag, 27. November 2010

Steine sprechen eine stumme Sprache. Und wieder: Florenz

Auch der zweite Landeversuch missglückte. Mitten in einer finsteren Regenwolke begann das Flugzeug plötzlich und kraftvoll wieder nach oben zu ziehen. Der Pilot meldete sich entschuldigend und bekräftigte, dass keine Gefahr drohe, irgendwie würden sie schon auf festem Boden landen, die Gewitterwolke über Florenz sei augenblicklich aber so undurchdringlich, so dass er seine Fluggäste nun nach Pisa fliegen und dort sicher zu Boden bringen würde.

In Pisa strahlte die Sonne und es dauerte eine Weile bis Anna sich orientiert hatte. Auf den Bus zu warten schien ihr zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen, also suchte sie den Bahnhof und machte sich mit dem Zug auf den Weg nach Florenz. Mit vier Stunden Verspätung erreichte sie die Stadt am Arno und lief mit ihrem Koffer durch die Stadt. Den ersten Espresso ließ sie sich langsam auf der Zunge zergehen. Sie war angekommen. Ihr herrschaftliches Appartement lag direkt am Dom und dem Baptisterium in der Via Roma. Maria erwartete sie schon.

Nun war sie also da. Wieder einmal. In der alten Stadt. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig und ragt in die Gegenwart. Anna sah aus den Fenstern, jeder Blick bot ihr eine andere Perspektive auf die prächtigen Gebäude. Schon seit langem waren die Autos aus dem Zentrum verbannt worden und so lag der Platz still vor ihr. Hin und wieder wurde er von einem Taxi oder einem kleinen Lieferwagen durchkreuzt, die Stimmen der Menschen hörte sie bis in den 4. Stock kaum. Sonne und Wolken wechselten einander ab. Die Steine schwiegen und spiegelten durch ihre glänzende Nässe das Geschehen in der Vertikalen.

Mit Maria, einer stolzen Florentinerin, trank sie den zweiten italienischen Espresso, bevor sich beide auf den Weg machten. Aber wo wollte sie eigentlich hin? Die Luft war frisch, nach dem Regen, und überraschend warm. Die abendliche Dunkelheit legte sich sanft über die Stadt, die Ladenbesitzer entzündeten ihre Lichter. Die vielen kleinen Schaufenster leuchteten hell und einladend, Straßenmusik war an jeder Ecke zu hören. Hier gehört die Nacht zum Tag. Die Straßen bleiben bevölkert und das Leben geht weiter.

Die steinerne Stadt gibt Heimat. Sie steht still und ehrwürdig da, präsentiert sich als Mahnmal für all diejenigen, die hinschauen. Die Fassade der Kirche San Lorenzo ist seit fünfhundert Jahren unvollendet – und das bleibt sie wohl auch. Aber wohin richtet die Stadt ihre Aufmerksamkeit? Wovon spricht eine unfertige Fassade? Der Dom, von oben gesehen wie ein großes Schiff aussieht, steht still und erhaben da. Das Dante-Haus, das Kloster San Marco, der Palazzo Medici, Palazzo Vecchio und viele Gebäude mehr. Alle sind da und harren aus.

Das Leben war kurz - damals. Lorenzo wurde dreiundvierzig, Poliziano vierzig, Pico nur einunddreißig. Warum starben sie innerhalb von kürzester Zeit? All dies geht Anna durch den Kopf, sie fühlt sich beteiligt. Und sie erinnert sich, dass nur Marsilio Ficino die anderen überlebt hat, er wurde knapp sechsundsechzig Jahre alt. Die Lebensdauer betrug vor fünfhundert Jahren etwa die Hälfte unserer Lebenserwartung heute. Und doch hat man gerade damals mit einem langen Leben gerechnet, sich auf die Zukunft ausgerichtet. Häuser und Paläste wurden für Generationen gebaut. Für Jahrhunderte. Nein, damals war die Zeit nicht so kurzlebig wie heute, wo jeder, wenn überhaupt, nur noch die eigene Lebensdauer ins Visier nimmt.

Die Palazzi wären auch heute noch bewohnbar. Es ist bekannt, wer wo gewohnt hat, was damals an welchem Ort stattgefunden hat. Anna wandert mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die engen Gassen und über die prächtigen Plätze. Sie ist hier zuhause und doch fühlt sie sich einsam wie selten sonst im Leben. Touristen aus aller Welt laufen mit ihren blitzenden Fotoapparaten an ihr vorbei, überall wird an die glorreiche und wechselvolle Geschichte der Stadt erinnert. Man prahlt mit den alten Meistern: Michelangelo, Leonardo, Raffael und vielen, vielen mehr. Aber sie sind alle tot.

Damals waren die Gebäude belebt. Menschen gingen ein und aus, sie lebten, stritten, hofften und bebten darin. Dramen spielten sich ab, sogar Morde fanden statt. Vor zwei Jahren grub man Picos und Polizianos sterbliche Überreste aus, um zu untersuchen, ob die Gebeine etwas über ihre Todesursache verraten. Die Geschichte dauert also an, auch nach fünfhundert Jahren noch. Heute stehen die meisten Palazzi verlassen da. Sie stehen und stehen und warten und warten – und dürfen nur noch besichtigt werden. Aufsichtspersonal und Carabinieri scheinen in der Renaissance-Metropole sichere Posten abzugeben.

Anna durchstreift die Stadt mit einem Blick nach hinten. Damals. Das Verhältnis zwischen Stadt und Land scheint gut zu sein. Kein Baum und kein Tier sind weit und breit zu sehen in der steinernen Stadt – das wird wohl damals auch schon so gewesen sein. In der Markthalle aber, da wird die Pracht der Natur, Früchte und Gemüse in jeder Form, Fleisch, Fisch und Käse vor ihr ausgebreitet. Alles ist zu haben, was sich vorstellen lässt.

Der Humanismus hat damals Fuß gefasst. Marsilio Ficino hat Platon übersetzt – als erster. Als er dreiunddreißig Jahre alt wurde, war er mit dieser Aufgabe fertig. Die Texte haben fast zweitausend Jahre darauf gewartet. Eine lange Zeit. Anna versucht nach vorne zu schauen, über die Toten in ihren alten Gräbern hinaus. Was kommt aus der Zukunft auf sie zu? Auf Florenz zu? Und noch einmal: woran erinnert die Stadt, womit mahnt sie? Wo will sie hin?

Die Steine ertragen die Schritte der Menschen. Bis sie abgenutzt sein werden, wird es noch lange dauern. Auch das Wasser fließt noch, der Arno – und auch er wird weiterfließen. Anna hat das Gefühl in die Vergangenheit zurück gezogen zu werden. Es war eine intensive Zeit damals. Maria, ihre Freundin und geborene Florentinerin, weiß fast nichts davon. Sie lässt sich staunend in die Kirche Santa Maria Novella mitnehmen und hört gebannt zu, als Anna erklärt, wer welche Figur ist, die da an die Wand gemalt wurde. Wird es noch weitere eintausend fünfhundert Jahre dauern, bis wieder einer in Florenz aufsteht, um zu übersetzen, was die Altvorderen zu sagen hatten und damit in die Zukunft weist?

Anna ist (zu) früh gekommen. Sie nimmt das Schweigen aus der Stadt mit und trägt es still in sich. Die alten Freunde von damals sind nicht vergessen. Sie leben so lange auf der Herzinnenseite weiter, bis sie sich wieder nach außen kehren dürfen, bis die Steine sich öffnen und für diejenigen anfangen zu sprechen, die bereit sind darauf zu hören.

Sonntag, 21. November 2010

Zwischen Wörtern sitzen. An- und Abwesenheit

Sie lag noch im Bett, als sie aufwachte, was selten geschah. Meistens kam sie erst zu sich, nachdem sie sich auf leisen Sohlen, und immer wieder zögernd, an den Tag herangemacht hatte und in ihrem halbwachen Zustand mindestens eine Stunde keine Wörter zu benutzen brauchte. Als sie also an diesem ungewöhnlichen Morgen in ihrem Bett erwachte, wusste sie sich von Wörtern umringt. Sie fühlte eine gewisse Erwartung.

Welche der Worte würde sie im Laufe des Tages benutzen, für ihre Anliegen einspannen? Wie oft, in welchem Kontext und mit welcher Melodie? Die Worte präsentierten sich vor ihr. Boten sich herausfordernd an. Das eine machte sich lang und groß, ein anderes strahlte Wichtigkeit aus, es blinkte abwechselnd rot und gelb auf. Andere saßen ganz hinten an der Bettkante und drohten fast herunterzufallen.

Sie war überfordert. Hatte noch keine Orientierung über das, was sie von dem Tag erwartete und worauf sie sich zubewegen würde. Was wollten all die Worte von ihr? Punkt und Umkreis blieben noch unscharf. Und mit Schärfe konnte sie nichts anfangen. Heute nicht. Sie ließ ihre Worte im Bett und stand allein und ohne sie auf. Ein leises Murren hörte sie hinter sich, als sie ins Bad verschwand.

Ein Tag ohne Worte. Da hatte sie sich auf etwas eingelassen. Sie stand vor dem Kühlschrank. Und wusste nicht, was sie wollte. Deshalb machte sie sich einen Kaffee. Danach ging sie in den Garten um eine Zigarette zu rauchen. Die Katze saß unter dem Gebüsch und starrte auf eine singende Amsel, oben auf dem Ast des Apfelbaumes – Gott und die Welt schien sie dabei vergessen zu haben. Die Protagonistin dieses Textes spürt eine gewisse Leere. Trotz der Fülle der Natur. Kaffee und Zigarette schlugen ihr auf den Magen – und kein tröstendes Wort ist zur Hand.

Stille umfing sie, als sie an ihrem Schreibtisch saß. Sie las sich den Artikel noch einmal durch, den der Kollege gestern mit wichtigem Blick eingereicht hatte. Sie konnte an seinen Worten nichts finden. Weder das angekündigte „Anrührende“, noch die Offenbarung. Aber sie hatte heute keine Worte zur Verfügung. Und in diesem Moment war ihr auch noch das Bewusstsein darüber verloren gegangen, wo sie sie gelassen hatte. Sie wusste mit dem Text nichts anzufangen und konnte nicht antworten. Also legte sie den Artikel beiseite und ließ ihren PC hochfahren.

Und schon hämmerte der Verlust der Worte auf sie ein. Sie geriet in ein immer wilderes Chaos von Gefühlen und Emotionen. Als sie selbst die Schriftzüge auf ihrem Bildschirm nicht mehr in ein sinnvolles Gefüge bringen konnte, gab sie auf. Ohne Worte zu denken schien nicht möglich zu sein. Außerdem wollte sie einen Blogtext schreiben. Und der bestand bekanntlich aus Worten.

Ein postmoderner Tag ohne Worte war in der Metropole ein verlorener Tag. Und sie realisierte, welche Dummheit sie begangen hatte. Wie hatte sie ihre Worte einfach sitzen lassen können? Möglicherweise tummelten sie sich immer noch in ihrem Bett, oder sie waren herunter gefallen, lagen im Staub unter ihrem Bett… Sie rannte durch ihre Wohnung, die Treppe hinauf und öffnete klopfenden Herzens ihre Schlafzimmertür.

Was sie sah, ließ sie erstarren. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, dass Worte ein unzivilisiertes Eigenleben führen, wenn sie nicht im Dienste eines Menschen stehen, der sie ordnet, vorschickt, zurückhält oder anbietet. Sie nahm sich unmittelbar vor, besser auf ihre Worte zu achten, sie besser zu versorgen. Deshalb setzte sie sich in die Mitte ihres Bettes, in die Mitte ihrer Worte und bat sie, ihr zuzuhören. Und sie schenkte ihren Worten ihre Worte um wieder Worte zur Verfügung zu haben.

Samstag, 13. November 2010

Santorini. Mein Beginn - damals

Jelle, du hast auf deinem Weblog (www.jellevandermeulen.blogspot.com) eine Debatte eröffnet. Über die Elias-Initiativgemeinschaft. Und über Adventura. Und da ich an den beiden Vorhaben beteiligt war, und jetzt so viele Erinnerungen wach werden, möchte ich von davon erzählen. Wie es war. Mein Einstieg. Damals.

Ich war jung - sehr jung. Und hatte drei kleine Kinder - echt kleine. In jenen Jahren - damals. 1993 sprach ich an irgendeinem Abend mit einer Freundin über neue Bücher in der anthroposophischen Szene und sie zeigte mir, schon im Flur stehend, noch ein dunkelrotes Büchlein. Dazu sagte sie: „Das ist das Neueste jetzt, gerade herausgekommen. Sehr bedeutsam. Von dem alten Holländer, der eben gestorben ist. Lievegoed heißt er. Den kennst du wahrscheinlich nicht. Und das Buch interessiert dich vermutlich auch nicht. Ist nichts für dich.“

Aber ich nahm es mit. Das Buch. Und verschlang es am nächsten Nachmittag. Noch heute sehe ich mich in meinem damaligen Wohnzimmer auf einem alten Sessel sitzen und lesen. Ich vergaß (fast) alles um mich herum. Die Kinder spielten. Ich machte ihnen kurz etwas zu essen. Sie spielten weiter - ich las weiter. Ich las das Buch in einem Rutsch. Und ich war sehr berührt. In meinem Inneren bewegte sich etwas, da war etwas angekommen.

Sieben Jahre hatte ich mich gänzlich meiner Familie gewidmet. Gelernt, wie man Weihnachten feiern kann, mich damit beschäftigt was Kinder wollen und brauchen, habe ständig auf irgendwelchen Spielplätzen gesessen oder in Wildgehegen gestanden, wo es galt scheuen Rehen Vogelmire hinzuhalten. Den halben Tag verbrachte ich in der Küche, die zweite Hälfte hatte ich Kinder auf dem Schoß, im Arm, fütterte, wickelte. Abends wurde genäht, gestrickt, Marmelade gekocht… All das eben, was Vollzeit-Mütter so tun können.

Das Buch „Über die Rettung der Seele“ von Bernard Lievegoed bezog mich als Leserin ein. Ich war kein Zuschauer mehr, sondern Mit-Akteur. Mitten in meinem Wohnzimmer. Mit meinen kleinen Kindern um mich herum. Ich wurde beteiligt, nein, ich war schon immer beteiligt. Nicht weniger als im Weltganzen. Der Inhalt des Buches eröffnete mir einen neuen Blick. Auf mich und mein eigenes Leben, auf meine Mitmenschen und das Weltgeschehen. Sinn wurde spürbar, von der Vergangenheit, durch die Gegenwart und bis in die Zukunft hinein.

Ein paar Monate gingen ins Land. Mittlerweile zog ich um, aufs Land. Und wusste innerlich überhaupt nicht mehr, wo mein Platz auf dieser Welt eigentlich war. In der Zeitschrift info3 sah ich eine Anzeige. „Seminar auf Santorini, Griechenland. „Über die Rettung der Seele“ mit Jelle van der Meulen.“ In meiner Situation war es völlig absurd, für eine Woche nach Griechenland zu fliegen. Und ich versuchte die Sache zu vergessen.

Einige Wochen später sah ich eine zweite Anzeige. Das Seminar sollte wiederholt werden. Es hatte so viel Anklang gefunden. Und wir hatten gerade eine Steuerrückzahlung erhalten. Ich meldete mich an. Direkt. Völlig verrückt. Und ich flog. Nach Santorini. Ich war gespannt. Und erwartete ein klassisch-anthroposophisches Seminar. Zu den Sitzungen nahm ich meinen Text mit. Aber den brauchten wir nicht. Und meine Furcht, nicht mitreden zu können löste sich in Luft auf.

Nein. Da wurde ganz anders gearbeitet, als ich das aus anthroposophischen Kreisen kannte. Wir sprachen miteinander. Die Menschen, die da waren, schauten sich in die Augen. Und es ging um die dunklen Seiten des Lebens. Um eigene Erfahrungen. Um Enttäuschungen, Schmerzen, Wunden – es ging um das Böse. Aber auch um Wünsche und Hoffnungen. Darum, wie wir im Leben stehen. Gebannt hörte ich zu. Noch heute sehe ich uns dort sitzen. Äußerlich habe ich mich sehr zurückgehalten. Aber innerlich entzündete sich ein Licht in mir.

Kurze Zeit später, als der Verein gegründet war (die Elias-Initiativgemeinschaft), stieß ich unumwunden mit in die Mitte des Kreises. Stellte mich zur Verfügung. Wollte mitarbeiten. Und wurde gefragt, ob ich in der Redaktion des Rundbriefes mitarbeiten könne, und vielleicht das Layout und den Versand übernehmen würde. Noch nie hatte ich dergleichen getan. Und ich stieg ein. Der Computer fügte sich mir. Die zu schreibenden Worte ließen ein wenig länger auf sich warten.

Es entstand eine Zusammenarbeit zwischen Flensburg und Lyon, Amsterdam und Kassel. Telekommunikation macht vieles möglich. Zusätzlich zu den Tausenden von Kilometern, die wir alle auf Deutschlands Autobahnen verbracht haben. Der Elias-Initiativgemeinschaft und Adventura, mit all den Menschen, die damals mitgemacht haben, verdanke ich meinen Einstieg ins gesellschaftliche Leben, ohne mich selbst dabei zu verlieren.

Viel ist in all den Jahren passiert. Ich habe die komplette Geschichte der Elias-Initiativgemeinschaft und Adventuras mitgemacht. Sie bietet Stoff für mehrere Romane. Und ich bin noch immer dabei. Irgendwie. Und irgendwo. Verletzungen sind entstanden, Wunden haben gebrannt und Köpfe geraucht. Vieles war möglich. Und irgendwann wurde vieles unmöglich. Ein Schweigen entstand, Stille breitete sich aus. Gescheitert sind die Vorhaben beide. Irgendwie. Und das war sehr schmerzvoll. Missen möchte ich sie in meinem Leben aber nicht. Niemals.

Der Impuls des Buches „Über die Rettung der Seele“ lebt. Die wichtigsten Freundschaften in meinem Leben sind damals entstanden, durch die Menschen, die ich bei Elias und Adventura getroffen habe, die mitgemacht haben. In meinem Leben bot sich nach dem Elias- und Adventura-Scherbenhaufen NALM an. Dort arbeite ich seitdem weiter. Am Aufbau einer Kultur des Herzens.

Sonntag, 7. November 2010

Verspätete Replik. Heimat in einem Grab?

Die Nachricht trifft. Mich. Nicht auf rationaler Ebene. Nein. Verstehen kann ich das alles. Sondern in meinem Herzen. Sie löst einen Schmerz aus. Es ist ein lockeres Mail – so wie sie haufenweise tagtäglich verschickt werden. Das Mail beinhaltet die einfache Nachricht, dass das Grab meiner Großeltern aufgelöst wird. Man mietet ein Grab für zwanzig oder man kauft es für vierzig Jahre - auch wenn ich diese Logik nicht verstehe - und das Grab meiner Großmutter habe nun zwanzig Jahre bestanden. Also laufe der Mietvertrag ab. Den Grabstein könne man abholen. (Und dann? Was mache ich denn um Gottes Willen mit einem Grabstein? Ihn mir in den Garten stellen – ohne das Grab?) Ich bin verwirrt.

Meine Großmutter hat fast neunzig Jahre gelebt, sie ist eine jener Frauen, die das ganze Drama des 20. Jahrhunderts mitgemacht haben. Und sie kam aus Böhmen. (Wer kennt diesen Landstrich?) Sie war Deutsche im heutigen Tschechien. Die Geschichte ist verworren und kompliziert. Das Leben meiner Großmutter begann noch unter der k.u.k. Monarchie. Damals war das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen etwa sechs zu vier. Sie gehörte zur Oberschicht. Und ich nehme an, dass sie bei der Gründung der Tschechischen Republik 1918 zugestimmt hat, dass es darin eine abgeschlossene Republik der Deutschböhmen geben sollte.

Sie war fast vierzig Jahre alt, als im ersten Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs ihr erster Sohn geboren wurde. Davor hat sie an der Seite ihres Mannes ein angenehmes großbürgerliches Leben geführt. Selbstverständlich hat sie nicht gearbeitet. Nein, sie hat Tennis gespielt und ist ausgeritten. Ich weiß nicht viel über diese Zeit. In meiner Hochhaussiedlung in der ich aufwuchs sah das Leben anders aus. Aber wenn sie mir von ihrem früheren Leben in meiner Kindheit erzählt hat, was sie nicht oft tat, dann entstand in mir ein fernes-warmes-undeutlich-stimmiges Bild.

Ihr Mann durfte in den ersten Kriegsjahren bleiben, denn er war Direktor eines Elektrizitätswerkes – und das war kriegsrelevant. Mitten im Krieg wurde den beiden ein zweiter Sohn geboren. Wie ich mir die genauen Umstände vorstellen soll, weiß ich eigentlich nicht. Was ich aber weiß ist, dass meine Großmutter am Kriegsende mit ihren beiden Söhnen vertrieben wurde. Sie musste vor den Tschechen fliehen, denn die waren auf die Deutschen nicht mehr gut zu sprechen. Mein Großvater war inhaftiert worden. Nie mehr kehrte die Familie in ihre Heimat zurück.

Wenige Jahre nach dem Krieg starb mein Großvater und meine Großmutter musste mit ihren beiden Jungen, fern von der Heimat, irgendwie durchkommen, ein neues Leben beginnen. Erst fünfzehn Jahre nach der Flucht gab es einen neuen Ort, der sich langsam „Zuhause“ nennen ließ. Wiederum einige Jahre später kam ich auf die Welt und lernte meine Großmutter dort kennen. Sie war eine kleine, zarte Frau. Ich erinnere ihre knochigen, warmen Hände, sehe sie noch vor mir, deren Gelenke im Alter deutlich hervorgetreten waren.

Sie trug Hosen, selten Kleider. Und sie rauchte. Bis ins hohe Alter. Ihre Zigaretten, Lord Extra, legte sie immer in den Kühlschrank. Sie meinte, dass sie dort frischer blieben. In ihrem Wohnzimmer hingen Fotos. Eins von ihrem Mann, meinem Großvater also, und eins von zwei Jungen in Lederhosen, meinem Vater und meinem Onkel. Alle drei Bilder waren mir fremd. Immer wenn ich meine Großmutter besuchte, und das geschah in den Ferien öfters, fuhren wir auch zum Bergfriedhof.

Dort lag ihr Mann begraben, er war mehrere Male umgebettet worden. Mein Großvater also, aber ich kannte ihn nicht. Überhaupt kannte ich damals keine Toten. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, dass da mal jemand gewesen sein sollte, der jetzt nicht mehr da war. Ich konnte das denken, aber nicht fühlen. Was ich aber fühlte, das war die Wärme und die Nähe, die meine Großmutter ausstrahlte, wenn wir zum Friedhof fuhren, und das berührte mich. Immer war ich gerne dabei. Wir pflegten das Grab, brachten Blumen.

Als ich erwachsen war und bereits zwei Kinder hatte, starb meine Großmutter. Sie war meine erste richtige Tote. Ich fuhr zu „ihr“, wenige Stunden nach ihrem Tod, und saß an ihrem Bett. Sie war sehr alt geworden. Und lag so friedlich da. Ihren Körper, die irdische Hülle, abgestreift, auf der Erde liegengelassen, und innerlich davon geflogen. Ja, so erlebte ich sie. Der Tod beeindruckte mich und schenkte mir eine große Ruhe. Er war, als Kontrast zu den Geburten meiner Kinder; in mein Leben getreten und erhielt einen würdigen Platz. Anfang und Ende gehören zusammen.

Und wir fuhren zum Bergfriedhof. Wieder einmal. Den Ort kannte ich schon. Und begruben die Asche meiner Großmutter. Und seitdem bin ich viele Male dort gewesen. Es ist ein schöner Friedhof, still und voller ehrwürdig alter Bäume, deren Blätter im sanften Wind zu rascheln beginnen. Lang nach ihrem Tod habe ich in ihrer Stadt studiert, das war schon ein Kindheitstraum gewesen, und jeden Tag fuhr ich an ihrem alten-neuen Zuhause vorbei. Nach meiner letzten Prüfung habe ich eine rote Rose auf ihr Grab gelegt, denn sie war mir in all den Jahren immer nah.

Auch wenn sie selber keine Heimat mehr hatte, zu den sogenannten Vertriebenen gehörte, so hat sie mir doch Heimat gegeben. In ihrem Leben und in ihrem Tod. Ich werde den Ort vermissen, so er denn tatsächlich aufgelöst wird. Kann es denn wahr sein, dass sie jetzt noch einmal gehen muss, aus ihrem Grab, weil ein „Mietvertrag“ abläuft?


Nachtrag:
Die Familie hat getagt. Das Grab bleibt erhalten. Für die nächsten vierzig Jahre. Bald werde ich wieder einmal zum Bergfriedhof fahren. Um einen Moment Heimat zu spüren. Bei und mit meiner heimatlosen Großmutter, die nun ihre letzte Heimat behalten darf. Darüber freue ich mich sehr.

Sonntag, 31. Oktober 2010

Anna. Fragmente aus dem großen Ganzen.

1943. Anna bereitet sich vor.
Die Mutter versuchte das Familienleben aufrecht zu erhalten. Gebräuche, Gewohnheiten. Sie hatten es sich so schön vorgestellt. Alles war bereitet gewesen. Sie hatten so gut vorgesorgt. Aber die Welt war erbost. Kämpfe tobten. Ein Krieg wütete. Der Vater war eingezogen worden. Nun musste sie mit den beiden Jungen allein zurechtkommen. Aber sie hatte noch das Hausmädchen, die Köchin, den Gärtner. Geld war genug vorhanden. Möge der Alptraum doch schnell vergehen.

Aber es kam anders. Die Frau musste fliehen. Mit den beiden Kleinen. Laufen. Tragen. Hungern. Frieren. Angst haben. Den kompletten Absturz durchmachen. Nichts blieb ihr. Fast nichts. Aber die beiden Jungen. Sie mussten neu beginnen. Ganz von vorne anfangen. Die Jungen waren tapfer. Gemeinsam würden sie es schaffen. Der Vater kam nicht zurück.

Als Anna die Bilder von oben sah, entschloss sie sich. Noch ein paar Jahre hätte sie zu warten. Dann könnte sie kommen. Als Tochter des einen. Es würde ein neuer Ort werden. Und die Orte würden wechseln. Aber das gehörte dazu. Geschichten haben Vorgeschichten. Und Folgen. Eine Geschichte ist nicht abgeschlossen. Nie. Auch wenn es so aussieht. Manchmal verliert Anna die Übersicht. Sie denkt vorwärts und immer wieder rückwärts und manchmal verliert sie sich darin.

1972. Annas Kinderwelt.
Das Leben in der Neubausiedlung war aufregend. Immer geschah irgendwo etwas. Die grauen Klötze waren von Menschen erfüllt. Es war ein Kinderparadies - hinter den großen Häusern. Vor dem Haus war die Straße. Und ein langer Parkplatz. Dort standen die Autos aufgereiht. Straßen gehörten zu ihrem Leben. Jeden Tag wurde sie mit dem Auto irgendwohin gefahren. Auf großen grauen Straßen. Auf Autobahnen. Nach dem Krieg wurde hier schnell gebaut. Alles sollte besser sein. Vor allem die Straßen. Und die großen grauen Häuser, worin die vielen Menschen Platz hatten.

Als sie auf dem Rückweg aus den Ferien waren – sie waren unendlich weit gefahren – schauten die beiden Kinder, Anna hatte einen Bruder, auf die Straßenschilder. Wann würde ihre Stadt erscheinen? Wie viele Kilometer würden es noch sein, bis sie zu Hause ankämen? Autobahnen sind lang, sie gehen ineinander über, die Welt ist von Autobahnen durchkreuzt. Autobahnen gehören zum Leben. Ohne Autobahnen bewegt sich nichts. Alles Interessante auf dieser Welt ist über die Autobahn zu erreichen.

1995. Anna erinnert sich.
„Wie kann man in so einer schönen Wohnung unglücklich sein?“, fragte Franziska. „Du hast doch alles, was du brauchst. Könnte man je mehr wollen?“ Anna erklärte: „Es ist nicht die Wohnung, das Haus. Es ist auch nicht die Familie, die Menschen hier. Nein, alle geben sich Mühe. Es sind die Straßen die mir fehlen.“ Franziska blickte sie verständnislos an. Die beiden Frauen schwiegen. Was gab es darauf noch zu sagen. „Die Straßen? – Es geht dir nicht gut. Bist du etwa krank?“, flüsterte Franziska.

Anna sah aus dem Fenster der neuen Wohnung, des neuen Hauses. Sie war allein. Es roch gut in ihrer Küche. Ein großer Baum stand vor dem Fenster. Sie träumte durch ihn hindurch, über alle Felder hinweg. Durch die Wälder, bis zur großen Straße. Mit offenen Augen. Ausgangspunkt war ein Straßenschild. Nach rechts ging es in das eine Dorf. Links in das andere. Und in die Kreisstadt. Und dann war da noch ein kleines Zeichen. Blau und weiß. Das Zeichen für die Autobahn. Dorthin, in diese Richtung ging es zurück in die Welt. Auf die Autobahn. Über die Felder, durch die Wälder – bis zur großen Straße.


2009. Anna erlebt etwas.
Am Nebentisch sitzt eine südländisch wirkende Familie. Die Kinder scheinen völlig übermüdet zu sein, hängen mutig und schräg auf ihren Stühlen. Die anschmiegsame Frau versucht den griesgrämigen Mann aufzuheitern. Irgendetwas ist offensichtlich schief gegangen. Anna entscheidet sich innerlich weiter zu zappen. Eine andere Sendung einzuschalten. Die Geschichte nebenan scheint ihr alt zu sein. Sie braucht Aufheiterung und einen Plan. Sie will etwas erreichen. Dafür wählt sie seine Nummer.

Der Kellner bringt ihr einen weiteren Espresso. Er serviert ihr ein Croissant. Er kennt ihre Gewohnheiten. Grinst sie dabei süffisant an. „Haben sie noch einen Wunsch, junge Frau?“ Anna blickt störrisch auf ihr Gepäck. Sie will kein Gespräch. Schon gar nicht mit dem Alten. Die Klingelzeichen lösen sich in der Ferne auf. Die Mailbox antwortet.

Als Anna die vertraute Stimme hört, kommen ihr die Tränen. Sie bittet schlicht um einen Rückruf. Danach zahlt sie an der Bar bei einem anderen Kellner und geht an ihren Abflugschalter. Boarding time. Sie ist eine der letzten Passagiere. Ihre Tränen trocknen auf ihren Wangen. Sie spürt die Salzränder auf ihrer Haut. Im Flugzeug schläft sie die meiste Zeit. Verschmäht das Essen. Wendet sich nicht ihrer Nachbarin zu. Lässt ihr Gepäck in der Tasche. Und träumt vom großen Wasser. Vom großen, warmen Wasser. Einer Wasserstraße. Diesen Traum kennt sie schon. Angst und Freude vermischen sich nach dem Aufwachen in ihr. Wie schon so oft.

Im Spiegel sieht sie ein sanftes und weiches Gesicht. Schlaf umfängt es noch. Sie lächelt es an. Erst im Taxi schaltet sie ihr Handy wieder an. Sie erschrickt. 27 Anrufe. 6 Kurzmitteilungen.

Samstag, 23. Oktober 2010

Zwischen gestern und morgen. Früchte tragen eine neue Saat in sich

Sie bewegt sich in der Großstadt zielsicher. Heute. Sie fällt nicht auf. Das moderne Leben ist ihr vertraut. Sie kann Geräte bedienen. Auf dem Land ist sie selten. Ihre Füße sind nicht groß, trotzdem geht sie mit festen Schritten der Zukunft entgegen. Erledigt ihre Aufgaben. Die Einsamkeit des postmodernen Menschen nimmt sie wahr. Staunt darüber. Und sie sucht ihren Weg. Geht ihren Weg auf Asphaltstraßen. Während sie sucht und geht. Ohne zu wissen, was sie eigentlich sucht und wohin sie geht. Sie weiß nicht, was sie finden will.

Sie hatte von dem Grubenunglück in Chile gehört. Sie verfolgt das Weltgeschehen durch die Medien. Fernsehen, Zeitungen. Ist einigermaßen auf dem Laufenden. Ist bestürzt über das Gefängnis der Bergleute. Natürlich. Mitten im Berg. Und sie sollen so eine lange Zeit dort unten in der Tiefe ausharren… Eine grauenhafte Vorstellung. Sie denkt nicht speziell daran, vergisst die Männer im Berg. Es ist so viel Trubel um sie her. Sie lebt irgendwie unbewusst damit. Bei all den vielen Schreckensmeldungen, die so kommen. Sie geht ihren Tagesgeschäften nach. Was auch sonst.

In der Nacht VOR der Rettung des ersten Bergmanns hat sie einen eindrücklichen Traum. Ja, so nennt man das. Einen Traum… Sie wusste überhaupt nicht, dass da etwas anstand, denn sie war unterwegs und hatte keine Nachrichten gehört. Sie träumte, dass sie die Bergleute besucht hätte. Sie war unten. In dem Schutzraum. Sah, wie die vielen Männer in Unterhosen auf dem Boden lagen oder saßen. Sprach mit ihnen. Sie sah die Kapsel, die sie wieder ans Tageslicht transportieren soll.

Als sie aufwachte, erinnerte sie sich noch genau. Sieht heute noch das innere Bild vor sich. Sie war bei den Bergleuten. Unten. Im Schutzraum. Dort, wo sie so unendlich viele Tage verbracht haben. Sie setzt sich ins Auto und fährt los. Macht das Radio an. In den 8 Uhr Nachrichten wird mitgeteilt, dass die Rettungsaktion angelaufen sei. Tatsächlich. Heute. Dass die Kumpel gerettet werden sollen.

Und sie realisiert, dass sie das schon weiß. Sie ist gewissermaßen dabei. Viele Tausend Kilometer entfernt. Und es kommen ihr die Tränen. Weil sie plötzlich spürt, was es heißt in einer Gruppe zu sein. Aufeinander angewiesen zu sein. Dazuzugehören. Gemeinsam eine Gruppe zu bilden. Zusammen ein Ziel zu erreichen. Jeder für sich und doch alle zusammen.

Während sie über die Landstraße fährt spürt sie, wie sehr ihr Grundlebensgefühl von einer Gruppe geprägt ist. Spürt vage etwas, was in einem letzten Leben unvollständig geblieben sein muss. Gefühlsmäßig. Nicht zu Ende geführt werden konnte. Aber noch in ihr lebt. In ihrem Rucksack steckt. Und plötzlich bekommen die Ereignisse in Annas Leben eine neue Kontur. Eine andere Farbe. Die postmoderne Einsamkeit bewegt sich nicht um sie herum, sondern steckt in ihr. Die roten Äpfel leuchten noch.

Sie erinnert sich. Vage. Es war kalt und nass. Damals. So wie heute. Und Angst machte sich breit. Damals. Der Morgen schlich sich nur langsam heran und sie wusste nicht, ob sie die Zeit vor- oder zurückdrehen wollte. Sie versuchte sich an den Moment des Eides zu erinnern. Als sie sagte, dass sie den Auftrag annehmen würde. Was immer auch geschähe. Sie war durch und durch davon erfüllt gewesen.

Diese Sicherheit schien nun weit weg zu sein. In den quälenden Morgenstunden des herannahenden Tages. Damals. Ihres letzten Tages. Aber das wusste sie nicht. Der einzige Trost war, dass sie sich auf die anderen würde verlassen können. Jeder hatte den Eid abgelegt. Jeder hatte seine Aufgabe. Jeder würde für den anderen einstehen. Sie würden es schaffen. Gemeinsam.

Die Gruppe hatte ein hohes Ziel. In der zerklüfteten Berglandschaft wurde es langsam hell. Die Schatten der Nacht wichen dem herannahenden Licht. Die leisen Geräusche vorbeihuschender Tiere waren zu vernehmen, es raschelte hier und dort. Aber das machte sie nicht unruhig. Das kannte sie. Sie richtete ihren Blick auf den wilden Apfelbaum, der als Mahnmal gegen den verhangenen Himmel stand. Die vereinzelten roten Äpfel hingen wie Zeichen im kahlen Geäst. Nasse Blätter bewegten sich im Wind. Wie kurz hatte der Baum nur geblüht, damals, als es wärmer wurde, wie schnell war die Pracht vergangen. Kühle lag über dem Bergrücken. Aber die Früchte würden die neue Saat in sich tragen – das wusste sie doch.

Plötzlich ging alles ganz schnell. An verschiedenen Orten flammten die Fackeln auf. Fast zu gleicher Zeit. Das bedeutete Gefahr. Die Aufmerksamkeit war zum bersten gespannt. Spannung lag in der Luft. Gedanken flogen durch den Himmel, vibrierten in der Dämmerung – die Gruppe musste sich von Ort zu Ort verständigen, ohne einen Laut von sich zu geben. Mit Feuerzeichen. Sie weckte die Männer. Blickte zum Horizont und wusste was zu tun war. Jeder schlich in eine andere Richtung. Lautlos. Schnell. Bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg über die Bergspitzen finden würden. Die Unruhe beflügelte sie.

Als sie wieder zu sich kam, sah sie ihren leblosen Körper in der Schlucht liegen. Hingegeben an die glatten Steine. Sie war abgerutscht. Allein. Hatte sich nicht halten können. Die anderen waren noch unterwegs, sie hatten ihren Tod noch nicht bemerkt. Die Geschichte nahm ihren Lauf, war noch nicht zu Ende. Aber davon würde sie nichts mehr erfahren.

Langsam wandte sich ihr Blick von der Erde ab. Wandte sich nach oben. Sie wurde begrüßt und in die himmlischen Sphären aufgenommen. Mehr wusste sie nicht davon. Als sie sich lange Zeit später wieder anschickte, auf die Erde zu kommen, begann sie die anderen zu suchen. Irgendwie. Um den Auftrag zu erfüllen. Irgendwie.

Die Zukunft liegt in der Vergangenheit.

Sonntag, 17. Oktober 2010

Schokoladen- und Kaffeeverbrauch. Eine Woche an der Alanus-Hochschule

Unser Kern besteht aus elf Personen. Zwei Männern und einem Schwung Frauen. Zwischen Mitte zwanzig und Mitte fünfzig. Aus ganz Deutschland angereist. Sieben ganze Tage waren wir zusammen, je zehn Stunden – oder mehr. Und einen Abend und einen Vormittag. Und wir werden uns wieder treffen. In vier Wochen. Zu einem weiteren der vorgegebenen Themen. Bildungshunger treibt uns, führt uns zusammen – die Freude daran, uns Themen zu nähern, Ideen zu teilen, Horizonte zu erweitern, Tiefen zu erkunden. In den jeweiligen Einheiten stießen Experten zu uns. In „unseren“ Raum: Semi10 – im ersten Obergeschoß.

Da kam jemand, der mit uns über Qualitätsentwicklung sprach, vornehmlich an Schulen. Mit seiner kräftigen Stimme und seinen dunklen, leuchtenden Augen führte er uns in Prozesse ein, die gewährleisten können, dass Vorhaben nicht nur Ziele bleiben, sondern tatsächlich auch durchgeführt werden können. 12 Prozesse gäbe es zu durchschreiten, jeweils in 7 Schritten. Staunend hörte ich zu, was es dabei alles zu bedenken gibt, wenn es gilt, in einem größeren Rahmen ohne Direktor zu einer Einigung zu kommen.

Und dann kam jemand, der unser Augenmerk auf das Gespräch an sich lenkte. Welche inneren Voraussetzungen braucht es für die Beteiligten, in ein wirkliches Gespräch miteinander zu kommen, was sind die äußeren Gegebenheiten, die helfend oder störend wirken? Unser Experte, ein gemütvoller und warmherziger Mensch, der uns drei Buchtitel nannte und uns ansonsten in Gespräche verwickelte, ist ein Mann, der aus Erfahrung spricht. Und so war es auch das, zu was er uns einlud: Gesprächserfahrungen zu machen.

Im Gegensatz dazu kam in manchen Nachmittagsstunden jemand, der (fast) jedes seiner Worte, die er zu uns sprach, schon vorher aufgeschrieben hatte und uns einen ganzen Haufen Papier übereignete. Strukturiert, geplant, gezielt – meine Damen, meine Herren! – bot er uns Wissen zum Thema der Selbstverwaltung, respektive Selbstgestaltung an. Da gibt es viel zu wissen, zu bedenken und klug zu changieren. Wenn eine Frage aufkam, so wurde sie stets umfassend, direkt und klar beantwortet.

Mehr der Geisteswissenschaft zugewandt, waren die Morgenstunden. Philosophische Grundfragen über Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Denkens. Reines Denken – ist das möglich? Stets makellos gekleidet, wurden wir vom Rektor in das Denken Steiners, Kants und Nietzsches zum Thema der Freiheit des Menschen eingeführt. Unsere konzentrierte Arbeit führte zu spannenden Gedankengängen. Welche Triebfeder ist es eigentlich, die uns in diese oder jene Richtung treibt, und wie ist es mit den Motiven, die Handlungen zu Grunde liegen?

Einen anderen Blickwinkel nahmen wir ein, als es um die Grundlagen des Menschen ging. Wie steht es mit den Ebenen des Denkens, des Fühlens und des Wollens – wissen wir, was wir wollen, können wir fühlen, was wir denken, wollen wir das, was wir tun? Mit sanfter aber bestimmter Stimme wurden wir immer wieder eingeladen, den fast hundert Jahre alten Text auf unsere Gegenwart herunter zu brechen und zu versuchen nachzuspüren, ob wir verstehen, was wir lesen, ob wir wissen, was wir sagen – und dann auch noch, ob das lebbar ist.

Ganz anders ging es in den eigentlich lähmenden Mittagsstunden zu. Da wurde zur Abwechslung nur wenig gelesen. Aber es war natürlich auch die Sprache, es waren Worte, um die es ging. Worte und Bedeutungen erleben, erspüren und ausdrücken. Jeder von uns wählte sich ein Gedicht und den anderen oblag es dann, dies sich bewegend, sich positionierend, sich darstellend zu verkörpern. Ein Expertenteam bemühte sich um uns – um unsere Stimmen und Betonungen und um unsere Bewegungen, unseren Ausdruck. Sie mit herber, herausfordernder Stimme und ungebrochenem Bewegungsdrang, er mit sanfter und einfühlender Stimmlage sowie einer feinen Wahrnehmung für die stimmlichen Schwankungen.

Der Schokoladen- und Haribo-Verbrauch stieg im Verlauf der Tage deutlich an – hinzu kamen unendlich viele Tassen Kaffee und ich weiß nicht, was noch alles. Hie und da kam „nach müde blöd“ – was der Stimmung immer gut tat – ein Wunder, wenn man bedenkt, aus welch unterschiedlichen Zusammenhängen wir kamen und wie anstrengend die gesamte Blockwoche war. In diesem Sinne gilt es zu verdauen, was es „essen“ gab - ich freue mich schon auf die nächste „Fütterung“.

Wer mehr erfahren möchte: Berufsbegleitender Masterstudiengang in Pädagogik. (Schwerpunkt Waldorf- und Reformpädagogik) Alanus Hochschule Alfter bei Bonn. www.alanus.edu

Samstag, 9. Oktober 2010

Liebe Christine, oft denke ich an dich...

... und dann höre ich deine Stimme, dein Lachen. Sehe dein Schmunzeln, dein nachdenkliches Zuhören, deine großen offenen Augen. Ich sehe dich, wie du neben mir am Steuer sitzt, wie wir im Kreis einander gegenüber sitzen oder wie wir in einem kleinen Grüppchen draußen stehen. Sehe, wie du rauchst, wie du einen Espresso trinkst oder ein Eis mit Sahne isst. Mein Blick ist dann rückwärtsgewandt.

Das alles sind Erinnerungen auf der irdischen, der weltlichen Ebene. Begegnungen und Sinneseindrücke die man haben kann, wenn man einen Körper hat, in einen Körper eingesperrt ist, wenn man inkarniert ist. Aber du bist nun schon fast zwei Jahre tot, „lebst“ in der geistigen Welt, hast keinen irdischen Körper mehr. Meine Erinnerungen beziehen sich auf das Hier – auf die irdische Welt. Sie wandeln sich nicht mehr, es kommt nichts Neues hinzu – es war wie es war, ich bewahre sie in meiner Innenwelt.

Was sich aber im Laufe der Zeit ändert ist die Bedeutung meiner Erinnerungen. Oft sind wir ja verschwenderisch mit Erlebnissen, gieren immer nach mehr und mehr, und erfassen die Bedeutung eines Augenblicks oft erst später – oder gar nicht. Wenn es aber plötzlich heißt, „das war es – es kommt nichts mehr dazu“, dann wird das Gesamtpanorama, und wenn es gut geht sogar die Idee des Lebens sichtbar. Vorher wähnten wir uns immer mittendrinn und dachten, dass noch viel geschehen werde…

Zukunft entsteht aus der Vergangenheit. Zukunft hat Vergangenheit. Das besagt auch ein schöner Filmtitel: Die Zukunft braucht ein altes Herz. Das Herz als Sinnbild für Integration des scheinbar Gegensätzlichen, des Unzusammenhängenden, des Zufälligen. Des Unsichtbaren, Geheimen oder Unaussprechlichen. Es war ein Herzinfarkt, der dich sterben ließ, der dir in der geistigen Welt einen neuen Geburtstag verschaffte. So plötzlich, so unerwartet – und doch so „stimmig“, irgendwie evident.

Wir waren uns in den Jahren, in denen wir uns immer wieder begegnet sind, in denen wir zusammen gearbeitet haben nah und fern zugleich. Wir waren sehr verschieden – und vielleicht deshalb so fasziniert voneinander. Einmal habe ich dich in Lyon besucht, habe gesehen, wo und wie du lebst, wo und wie du arbeitest, habe deinen Lebensraum kennengelernt. Und auch du warst einmal bei mir. Damals hatte ich noch kleine Kinder. Meistens aber haben wir uns an anderen Orten getroffen – dort, wo wir zusammen gearbeitet haben.

In meiner Gegenwart tauchst du oftmals unvermittelt auf. Plötzlich bist du da, sehe ich dich. Es sind keine „großen“ Botschaften, die ich erkennen kann, aber Präsenz. Und so versuche ich manchmal durch deine Augen zu schauen. Was würdest du wohl zu diesem oder jenem sagen? Ich war auf deinen Abschied nicht vorbereitet – damals. Und das geht mir irgendwie nach. Gibt es etwas, was ich verpasst habe? Mein Blick ist vorwärts gewandt.

Unser gemeinsames Anliegen, an einer „christlichen Infrastruktur“ oder einer „Kultur des Herzens“ oder einem „neuen Jerusalem“ mit zu bauen, geht seine Wege. Hier auf der sichtbaren, fühlbaren, erlebbaren Erde. Schon zu deinen Lebzeiten hatten wir uns vereinzelt, war die Gemeinsamkeit nicht mehr ausnahmslos fruchtbar. Und so steht es noch, die meisten der gemeinsamen Freunde, Mitarbeiter und Weggefährten sind ferne Freunde, nur noch erahnbare Mitarbeiter und selten sichtbare Weggefährten - jeder arbeitet an seinem Ort, mit seinen Möglichkeiten.

Dein Stern aber, leuchtet aus der geistigen Welt immer wieder zu mir herunter – und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Wie schön, dass du hier auf Erden warst, Christine

Sonntag, 26. September 2010

Ein Bote aus dem Reich des Vergessens. Zum 70. Todestag von Walter Benjamin

Heute vor siebzig Jahren hat Walter Benjamin in Portbou, an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, seinem Leben mit Morphium (das er zuvor noch mit Arthur Koestler in einem Internierungslager in Südfrankreich geteilt hatte, damit jeder für den Notfall genug hätte), ein Ende gemacht. (Koestler setzte es nicht ein.) Obwohl Benjamin ein Durchreisevisum für Spanien hatte, um in die USA auszureisen, ließen ihn die Grenzer in den Pyrenäen nicht passieren, da er ein „Staatenloser“ war. Um als Jude den Nazis nicht ausgeliefert zu werden, wählte er am 26.9.1940 den Weg in den Himmel – dorthin, woher sein Engelbild „Angelus novus“ von Paul Klee auf die Erde gestürzt war, als er auf die Geschichte des Landes blickte – und das Benjamin zeitlebens begleitete.

Walter Benjamin ist nur achtundvierzig Jahre alt geworden. Seine Lebensorte waren vornehmlich Berlin – dort ist er 1892 geboren worden –, die Schweiz – dort hat er die Kriegsjahre des ersten Weltkriegs verbracht und studiert – und Paris – das ihm ab den 30er Jahren Exil bot. Von Paris war er fasziniert. Bis zuletzt hat er am „Passagenwerk“ geschrieben, an einer "Urgeschichte der Moderne". Benjamin war ein eigensinniger Intellektueller zwischen den Weltkriegen, bewegte sich zwischen Tradition und Moderne, ganz dem deutschen Geist verschrieben. Erst die Postmoderne hat seine Werke entdeckt. Es waren die Freunde, die seine Manuskripte veröffentlichten.

Seitdem ist es zu einer wahren Flut an Literatur von und über ihn gekommen. Das Gesamtwerk wurde bei Suhrkamp publiziert, Benjamin selber hat zu Lebzeiten nur ganz wenig veröffentlichen können. Die Freunde von damals, Gershom Scholem, Theodor Adorno, Gretel Karplus, Bert Brecht, Hannah Arend, haben seine Manuskripte, die er ihnen zwecks Kommentierung zusandte, verwahrt und dann der Öffentlichkeit übergeben. Sie waren sein Archiv, denn er hatte viele Jahre lang kein Zuhause mehr. Er war ein Reisender, ein Suchender, ein Mann, der überleben wollte und einen Ort dafür brauchte. Benjamin war mit einer Aktentasche unterwegs.

David Wittenberg hat einen Film gedreht: „Geschichten einer Freundschaft. Walter Benjamin zum Gedächtnis.“ Er läuft zurzeit auf arte (http://videos.arte.tv/de/videos/geschichten_der_freundschaft-3423058.html). Dieser Film zeigt auf hohem Niveau das Dilemma, in dem Benjamin steckte. Er beschwört die Zeit von damals herauf. Mit eindringlichen Bildern aus Berlin, der Schweiz und Paris. Oft sind es stille Bilder, fotografische Filmaufnahmen, die mich als Zuschauerin durch ihre Stille bewegen und aufwühlen. In einem Spannungsverhältnis dazu werden bewegte Bilder gezeigt, fahrende Züge, Autos oder Schiffe – und sie machen still, betroffen. Sie machen die Stille erfahrbar, die eine Frage braucht, und die Bewegung, die ins Unausweichliche führt.

Bilder von damals wechseln sich mit Bildern von heute ab. Eine Zeitreise durch Orte mit ungewöhnlichen Perspektiven. Die unsichtbare Erzählstimme kommentiert, zitiert, stellt dar und mahnt mit leisen Worten. Ein anspruchsvoller Film, der an einen Mann erinnert, der heute bekannter ist als je zuvor. Der Film macht aufs Neue betroffen, weil die Zeitereignisse überhand nehmen und das Individuelle keine Berechtigung mehr zu haben scheint.

Walter Benjamin hatte viele Freunde, er war zu Lebzeiten nicht berühmt – das geschah erst posthum – aber bekannt, er war ein Mann des intellektuellen Lebens, der Auseinandersetzung. Er war ein Mann seiner Zeit, der sich einen Weg zwischen Vergangenheit und Zukunft zu bahnen versuchte. Und dabei, auch er, ein Gefangener. Er hat sich öffentlich eingebracht, solange das ging, und ist denkerisch immer eigene Wege gegangen. Benjamin war jemand, der die Dinge sich hat aussprechen lassen, sie neu durchdacht hat, ihnen zu neuem Licht verholfen hat.

Sein Freund Gershom Scholem ist schon in den zwanziger Jahren nach Palästina ausgewandert, und hat Benjamin wieder und wieder nicht nur eingeladen, sondern auch dringend gebeten zu kommen, sich in Sicherheit zu bringen. Aber Benjamin kam nicht, er war in diesen Dingen selten unbeholfen und die Tragödie nahm ihren Lauf. Benjamins Ort war Paris – und dort durfte er nicht bleiben.

Die Stellung, die seine intellektuelle Leistung ihm auf literarischer Ebene gebührte, wurde ihm zu Lebzeiten versagt, seine Habilitationsschrift abgelehnt. Was nützt einem Menschen der große Nachruhm, wenn er sich aus Angst vor seinen Zeitgenossen das Leben nehmen „muss“ um nicht von ihnen umgebracht zu werden. Sein Grab in Portbou verschwand nach einigen Jahren, der Autor drohte in das Meer der Unbekannten zu versinken. Heute aber ist der Ort zu einer intellektuellen Pilgerstätte geworden, seine Werke sind weithin bekannt.

Damals, in den Kriegswirren, waren es die persönlichen Freunde, die ihn und seine Schriften wie in einem Archiv in sich trugen. Das Schicksalsnetzwerk hat nach seinem tragischen Tod einen Toten mit seiner Aura zu neuem Leben erweckt. Zumindest auf literarischer Ebene. Durch Anteilnahme, Freundschaft, Wissen und Achtung. Benjamin ist mit seinen Worten ein Bote aus dem Reich des Vergessens, und ruft dazu auf einander wahrzunehmen. „Das wahre Maß des Lebens ist Erinnerung“ – sagte Benjamin schon, als er in Paris Proust übersetzt hat. Der Film von Wittenberg macht Erinnerung aufs Neue möglich, macht Zukunft nötig.

Sonntag, 19. September 2010

Identitätsverleugnung. Lügen auf Deutsch

Der warme Sommermorgen wurde von stillen Sonnenstrahlen umringt. Die prächtigen Gebäude machten weiterhin sichtbar, dass sie zwar noch stünden, aber einer liebevollen Restaurierung bedürften. Die Zeit ist stehengeblieben. Hier und da fällt ein Stück Putz von einer Fassade ab, Vögel landen auf dem Fußweg und picken etwas auf, Mülltonnen stinken vor sich hin. Das Licht mahnt Vergangenes an.

Vor siebzig Jahren stand die Stadt in Feindesland. St. Petersburg. Erbitterte Kämpfe brachten die Menschen zu Fall. Leid, Angst, Elend und Bitterkeit beherrschte die Menschen. Der Tod wütete überall. Die Deutschen waren es, die den Krieg anzettelten. Und sich später schuldig bekannten. Gelitten haben alle.

In jedem Geschichtsunterricht werden die verwirrenden Fakten besprochen, die verworrene Lage klargestellt und die Verantwortung deutlich gemacht. Es dauerte eine Weile, bis sich die Deutschen wieder zeigen konnten, bis sie zu einer – ihrer? – Identität zurückfanden. Bis sie wieder locker bekennen konnten Deutsche zu sein. Trotz der historischen Schuld.

Anna ist lange nach dem Krieg geboren worden. In aufgeklärtem Elternhause aufgewachsen. Sie läuft die alte Straße entlang. Am Sonntagmorgen, im stillen Sonnenschein, mit den übel riechenden Mülltonnen auf den Bürgersteigen. Sie sucht ein Haus. Obgleich es auch in ihrer Familie Opfer, Entbehrung und Leid gab – die Heimat musste verlassen werden, Grund und Besitz gingen verloren und es gab Tote zu beklagen – Nazis kannte sie nur aus Erzählungen, aus der Geschichtsbetrachtung eben.

Manchmal fragt sich Anna, warum sie sich in Deutschland inkarniert hat, warum sie eigentlich Deutsche sei. Da sie weder Schmidt, Schulze, noch Müller oder Meyer hieß, lud ihr Nachname oft dazu ein, sie für eine „Ausländerin“ zu halten. Wo sie herkäme, ob sie Deutsch verstünde oder sogar spräche… diese Fragen und Annahmen kannte sie. Und das hinterließ jedes Mal eine tiefe Verwirrung in ihr. In diesen Momenten fühlte sie sich sehr deutsch. Und zugleich in Frage gestellt.

Anna läuft betrachtenden Schrittes die Straße entlang. In St. Petersburg. Sie ist eine Touristin. Eine interessierte Mitbürgerin. Fühlt sich als verantwortungsvoller Mitmensch im 21. Jahrhundert. Sie sucht das Besatzungsmuseum. Auch dies: ein dunkles Kapitel der Geschichte. Die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg die Stadt 900 Tage belagert. Ausgehungert. Entsetzliches Leid ist damals geschehen.

Das Museum ist von außen kaum zu erkennen. Auch hier: bröckelnde Fassaden, eine vernachlässigte Gegend. Aber die Sonne scheint warm auf alles herab. Das Schild ist klein und nur in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Wie bekannt ist es eigentlich, dass es eine Belagerung der Deutschen gab, und dass es heute dieses Museum gibt? Zukunft braucht Erinnerung.

Anna tritt mit ihrem Begleiter in den Eingang des Museums. Alles ist hier vollgestellt. Die Luft ist trocken, muffig und alt. Bruchstücke von Bomben, Granaten, Panzern und Gewehren bilden den Empfang. Ob das nun russische oder deutsche Geschütze sind, lässt sich auf die Schnelle nicht feststellen. Auf den riesigen Bildern aber, die die Wände zieren, lassen sich Generäle der Roten Armee erkennen. Der starke Russe ist deutlich präsent.

Die beklemmende und zugleich verstaubte Atmosphäre wird von einer munteren Russin durchbrochen. Sie kommt strahlend auf Anna und ihren ebenfalls deutschen Begleiter zu. Sie spricht Russisch, Deutsch und Englisch zugleich. Ein Kauderwelsch, von dem sich nicht alles, aber doch einiges verstehen lässt. Anna begreift, dass die Russin selber Zeugin der Belagerung war. Ein hungerndes, verängstigtes, verlassenes Kind damals. Sie hat überlebt. Und will nun zeigen was damals war.

Plötzlich fragt die Russin, ob die beiden aus Kanada, Amerika oder England seien. Und Anna antwortet blitzschnell, dass sie Engländer seien…

Was ist in diesem Moment passiert, in dem die Vergangenheit plötzlich zur Gegenwart wurde? Beklemmende Betroffenheit überhandgenommen hat. Hat sich Anna mit der Schuld der vorangegangenen Generationen identifiziert – und gleichzeitig mit der Last dieser Schuld nicht mehr gerade stehen können? Warum verleugnet sie sich – so plötzlich? Welche Identität präsentiert sie als Teil deutscher Geschichte?

Neulich hat mir eine Freundin, die vornehmlich in der französischen und englischen Sprache lebt, mit mir aber Deutsch spricht, gesagt, dass man auf Deutsch nicht lügen könne, weder grundlos noch galant, dass diese Sprache auf einer Wahrhaftigkeit bestünde, die es nicht möglich mache – ganz anders offensichtlich als im Französischen oder Englischen – etwas zu sagen, was nicht stimme. Sie begründete das mit der ehrlichen und differenzierten Begrifflichkeit, der nuancierten Welt der deutschen Wörter.

Anna ist verwirrt. Sie ist Deutsche. Und das ganz ohne Probleme. In St. Petersburg aber, in einem Museum über die Belagerung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, spricht innerhalb von Zehntelsekunden eine Stimme in ihr, die ihre Herkunft verleugnet. Geschah das aus Takt der Russin gegenüber? Oder steckt etwas anderes dahinter?

Wie geht man als Engländer durch diese Welt mit ihrer Geschichte, als Russe, Holländer oder Amerikaner? Wie viel unserer nationalen Vergangenheit tragen wir unsichtbar auf unseren Schultern? In wie fern repräsentieren wir heute, im Zeitalter der Globalisierung, Nationalität? Deutsch zu sein kann bedeuten, aufrichtig mit Schuld und Lüge umzugehen – es schließt aber nicht aus, sich schuldig zu machen oder zu lügen.

Sonntag, 12. September 2010

Aufzeichnungen. Für die Geburt eines Text-Gewebes

Kreuzungspunkte:
Buchmesse Stand AX98, Autohaus Müller, Pastabar di Cornali, Luftschutzkeller, Bushaltestelle, Germanistisches Seminar, Ponte Veccio, Wald.

Zeit:
Hier und Jetzt. Immer. Damals. Dann. Bereits vergangen und noch im Kommen, Kreuzungspunkt Herz, von Inkarnation zu Inkarnation.

Bezugsrahmen:
Sachliche Dokumentation, Wünsche, Hoffnungen, Phantasien, „das“ Leben. Du und ich.

MitspielerInnen:
LeserIn, FahrkartenverkäuferIn, Kafka, zahnlose Großmutter, Benjamin Walter, Politologinnen, Servicepersonal, Hauptfigur, Nebenfigur, Taxifahrer, Gesellschaft, Unterwelt.

Kreuzungslinien in Raum und Zeit:
1958: Rom, nachts 4 Uhr, Flughafenterminal A
1985: Ruhr-Universität Bochum, dienstags 14-16 Uhr
2015: St. Petersburg, Platz am Ehernen Reiter
1907: Somewhere
1892: Berlin-Charlottenburg
XXX: XXX

Verschränkungen:
Metrolinien, Telefonverbindungen, Reisen, Inspirationen, Gefängnis in sich selbst, Suche, Platons Ideenwelt.

Nicht vorkommende Worte:
Blackberry, Donaudampfschiffskapitän, Projektionsfläche, Wahrheit, Whisky, Pferde und Fenster, Schicksal.

Perspektive:
Wechselnd. Das Netzwerk sichtbar machend. Ich-Perspektive mit unterschiedlichen Ausgangspunkten, Vogelperspektive auf das Geschehen, innen und außen, subjektiv und objektiv.

Rahmen:
Anfang und Ende im Jetzt, randlose, nicht fest umrissene Zukunft, Rückblende in Vergangenes je nach Befinden und Größe der tragenden Herzen.

Wiederkehrendes:
Rothko Bilder, Blogspots, Zarengrab in der St. Nicolaus Kapelle, ein goldener Füller, Wortschubladen, Verwirrungen, Sehnsüchte und Paragraphen.

Klappentext:
Die unverhüllte Wirklichkeit, von der niemand weiß, wo sie sich versteckt, trifft auf Vorstellungen und Ideale in konkreten Figuren, die deutlich machen, was es heißt in einer Verschränkung mit Raum und Zeit zu leben, zu lieben, zu scheitern und zu bangen. Das Unsichtbare wird sichtbar, das scheinbar Nebensächliche avanciert zum Wesentlichen.
Ein Roman voller Überraschungen, berührenden Sequenzen und einer taktvollen Analyse der westlichen Gesellschaft.

Sonntag, 5. September 2010

Begegnung. Die deutsche Sprache braucht ein neues Wort

Heute früh war ich auf dem Markt. Dort bin ich einigen Marktfrauen „begegnet“. Ich bestellte mein Obst und Gemüse, erhielt es, bezahlte es, bedankte mich und ging davon. Ich war an drei oder vier verschiedenen Ständen. Im Nachhinein weiß ich kaum mehr, wer mich eigentlich bedient hat. Mein Markteinkauf war ein funktionales Geschehen. Ich wollte schnell wieder nach Hause – um einen Blog-Text zu schreiben – und habe mich auf die menschlichen Begegnungen nur marginal eingelassen.

Zuhause am Laptop, mit einer Tasse gutem Espresso, entscheide ich mich, etwas über Begegnung zu schreiben – darüber, was ich heute früh auf dem Markt verpasst habe.

Heutzutage wird in vielen gesellschaftlichen Einrichtungen, in denen Menschen zusammenarbeiten, d.h. sich „über den Weg laufen“ und etwas miteinander zu tun haben, weil sie zusammen arbeiten, wie z.B. in Universitäten, Schulen, Kindergärten, Betrieben, Kultureinrichtungen, Firmen etc. danach gerufen, dass es mehr zwischenmenschliche Begegnung geben müsse, damit die gegenseitigen Verabredungen, die spezifischen Interaktionen und die jeweiligen Abläufe „besser funktionieren“. Um miteinander zu arbeiten oder zu leben, miteinander auszukommen und „etwas auf die Beine zu stellen“ braucht es Begegnung.

Begegnung, ist also das große Wort, das im sozialen, zwischenmenschlichen Leben Heilung verspricht. Gegen Einsamkeit, gegen Funktionalisierungen, gegen zermürbende Diskussionen, gegen Unverständnis, Streit und einen riesigen Berg an Verordnungen, Verträgen, Gesetzen und Verabredungen – die alle einmal aus guten Gründen (von Menschen!) erschaffen wurden. Gerade der menschlichen Willkür wollte man entgegenwirken. „Verträge“ gibt es für den Fall, in dem man sich nicht mehr „verträgt“.

(Der Bundespräsident prüft mit seinem Stab zurzeit, ob er dem Gesuch, einen Bundesbankmitarbeiter vorzeitig aus dem Amt zu entlassen, entsprechen kann. Dabei wird eine Begegnung – ein in die Augen schauen, ein Zuhören, ein Verstehen und ein im Gespräch-miteinander-sein und sich Austauschen – ausdrücklich vermieden, dabei geht es nur noch um die Rechtsgrundlage, Verträge und Gesetze also. Nachsatz: Einen Tag später ist zu hören, dass der Betroffene, falls das Verfahren tatsächlich eingeleitet wird, dringend um eine Anhörung bittet.)

All die Papiere und Verabredungen sind genau dafür entstanden, dass man sich nicht mehr begegnen muss. Denn eine Begegnung birgt natürlich auch eine Gefahr. Schon im (deutschen) Wort steckt der „Gegner“. Was ist also Begegnung, nach der wir uns auf der einen Seite sehnen und auf der anderen Seite Angst davor haben?

Wenn ich auf mein Leben schaue, dann sehe ich viele Menschen, denen ich auf angenehme oder unangenehme Weise begegnet bin. Ich schaue auf Begegnungen, die wieder verblasst sind, und auf Begegnungen, die einen reichen und blühenden Platz in meinem Leben haben. Und ich vermute gleichzeitig, dass ich an vielen oder vielem vorbeigegangen bin. Denn auch Gedanken, Impulsen, Landschaften, Städten und vielem mehr kann man begegnen – oder eben „nicht begegnen“.

Begegnung findet auf horizontaler und vertikaler Ebene statt, Begegnung beinhaltet einen ganzen Kosmos an Möglichkeiten. Etwas gesehen, jemanden getroffen zu haben, bedeutet nicht unbedingt, dass eine „echte“ Begegnung stattgefunden hat, etwas Wesentliches geschehen ist. Auf der anderen Seite setzt jede Freundschaft – auch jede Feindschaft – eine Begegnung voraus. Ohne Begegnung passiert - menschlich gesehen - nichts.

Was macht „echte“ Begegnung aus? Mir scheint es dafür wichtig zu sein, dass die Betroffenen überhaupt zu einer Begegnung bereit sind. Das bedeutet, dass sie in dem Moment ein Verhältnis zu sich selber haben, sich so akzeptieren, wie sie in dem Moment sind, um bei sich selbst zu sein. Des Weiteren braucht es eine Akzeptanz des Anderen. Und das ist schon gar nicht unbedingt so einfach. Nehme ich mein Gegenüber mit all seinen Vorzügen, Talenten, Wünschen, Hoffnungen, Schwächen und blinden Flecken wirklich an, sage ich JA zu ihm?

Die jeweilige Akzeptanz (von mir selber und dem Anderen) scheint mir eine Voraussetzung zu sein. Damit es aber zu einem Begegnungsmoment kommen kann, ist ein offener Raum nötig. Ein Moment, in dem etwas entstehen kann. Ohne Vorurteil, ohne Zielvorgabe, ohne Druck. Ein ungeschützter Moment, der frei und offen ist – in dem etwas Unvorhergesehenes entstehen und geschehen kann.

Und diesem Moment weichen viele Menschen aus – weil er eben unvorhersehbar, nicht steuerbar ist. Es ist der Moment, in dem der Freund zum Feind werden kann, der Feind zum Freund – um zwei heftige Extreme zu nennen. Denn kann man natürlich auch einem Gegner begegnen – nicht unbedeutend ist die Tatsache, dass sich zum Beispiel in einem mittelalterlichen Turnier, in einem ritterlichen Kampf die beiden Kontrahenten „echt“ begegnen.

Aber das Wunder ist an dieser Stelle genauso möglich. Das Gefühl des Verstanden-Werdens kann entstehen, ein neuer Impuls kann sich zeigen, eine neue Sicht auf den Anderen wird möglich, ein Geistesblitz kann eintreten, Dankbarkeit und Liebe können sich verbreiten – Begegnung kann bereichern und erfüllen. Begegnung ist ein Mysterium.

Begegnung ist ein Moment, in dem Veränderung möglich ist. Meine eigene und die des Anderen. Die holländische Sprache drückt den Begegnungs-Vorgang meines Erachtens passender aus. Begegnung heißt dort „ontmoeten - es muss nicht“ – aber es ist immer schön, wenn es passiert.

Sonntag, 29. August 2010

Das Leben ist eine Kränkung aus der Literatur erwächst

Bücher lesen wir linear – meistens – von A nach B, von vorne nach hinten, vom Anfang bis zum Ende – weil Schrift bei uns linear geschrieben wird. Von links nach rechts. Auch Zeit verläuft linear. Gestern, heute, morgen. Das Leben aber, so wie auch die Geschichten, die mitunter in einem Buch erzählt werden, verläuft alles andere als linear. Zeit ist elastisch – manchmal vergeht sie wie im Flug, manchmal im Schneckentempo. Und die Bedeutung von Ereignissen ist gar nicht in Kategorien einzuordnen. Das führt zu der Frage, wie Geschichten erzählt, Bücher geschrieben werden könnten, die sich nicht mehr ausschließlich an Linearität orientieren?

Einerseits ist der Mensch das Medium für die Sprache, ohne ihn gäbe es keine Worte. Durch ihn wird Sprache lebendig und ausdrucksstark. Die Sprache ermöglicht dem Menschen andererseits über sich selber hinauszukommen, ja, überhaupt aus sich herauszukommen. Damit er kommunizieren kann. Worte sind für alle da. Sie kosten nichts. Jeder Mensch ist frei, alle Worte die er kennt zu benutzen, so oft er will und in welchem Kontext er will – Worte müssen nicht bezahlt werden, Worte stellen sich frei zur Verfügung, sie schenken sich.

Der Mensch, als Wesen zwischen Himmel und Erde, zwischen Materie und Geist, muss also ständig Entscheidungen treffen, was er wie bezeichnet, wenn er seine Gedanken, Erlebnisse, Empfindungen in Worte fasst. Was drückt er aber aus, wenn er ein Erlebnis des gestrigen Tages in Worte fasst und jemandem erzählt? Kann Sprache tatsächlich Erfahrung transportieren? Können Geschehnisse in Sprache übersetzt werden? Können Gefühle über Sprache ausgedrückt werden?

Aus der mündlichen Sprache ist die schriftliche hervorgegangen. Und obgleich sich Sprache wandelt, können wir heute noch Texte verstehen, die vor hunderten von Jahren geschrieben wurden. Die Protagonisten dieser Erzählungen, die Schreiber und Adressaten sind längst verstorben – wir aber lesen ihre Geschichten, Tagebücher oder Briefwechsel. Wir staunen über sie, weinen mit ihnen, freuen uns für sie und stehen auch oft schlicht und ergreifend vor Rätseln, die sich uns nicht offenbaren. Manchmal erzählt uns die Literatur aber auch etwas über unser eigenes Leben.

Ich hatte einmal einen Traum, in dem sich Raum und Zeit aufgelöst haben. Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft trafen sich in mir in einem Moment der Gegenwart. Ich konnte den Zeitstrom fühlen und hörte Worte. Vergangene und zukünftige. Sie wurden aber nicht in meiner Sprache gesprochen – ich ahnte nur, dass sie von dem Zeitenlauf handelten, der nicht linear, sondern eher netzartig verläuft. Obwohl ich die Worte nicht „verstand“, lösten sie in mir das Gefühl aus, dass die Sprache das einzige Mittel ist, um als Mensch, der im Leben in seinem Körper gefesselt ist, das Gefühl der räumlichen Weite wiederzuerlangen und der zeitlichen Enge und Gebundenheit zu entfliehen.

Das gesprochene Wort und der Blick (!) entstehen und agieren in der Gegenwart oft nur einen winzigen Moment lang, und können doch Zeit und Raum so durchdringen und gleichzeitig umfangen, dass eine netzartige Verbindung entsteht, die weit über den Moment hinausgeht. Im richtigen Moment, am richtigen Ort. Das Leid, aber auch die Freude, machen sich auf diese Weise selbstständig. Sie werden sprachlich auf die Reise geschickt. Mit dem Wort bewegen wir uns von Mensch zu Mensch, senden Sprache aus und empfangen Worte – begleitet von Gesten, Blicken und zeitgeschichtlichen Ereignissen, denn jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit und seiner Kultur.

In der Literatur wird gerade davon oft berichtet. Und geschriebene Worte sind weitaus geduldiger als die gesprochenen, die so schnell vom Winde verweht werden. Einen Schreibanlass bieten gerade die Momente, in denen etwas nicht im richtigen Moment und nicht am richtigen Ort geschehen ist, in dem Worte, Gesten und Blicke ihr Ziel verfehlt haben – und aus dem das entsteht, was wir gemeinhin die Lebensgeschichte nennen - um nicht zu schreiben das Lebensdrama. Das geschriebene Wort, gute Literatur, speist sich aus Kränkungen des Lebens und schenkt sich damit Raum und Zeit, die über Linearität hinausgeht. Damit ist die Literatur dem Leben weit voraus.

Ich hoffe, dass es einmal Bücher geben wird, die gerade das sichtbar machen. Die sich als Ereignisnetz, als sich verwandelnde Landschaft oder in verschiedenen Zeiten (die mitunter über die irdische Lebensdauer hinausgehen) präsentieren, und die die Bedeutung der Ereignisse auch in ihrer Form sichtbar machen, auch, wenn die Schrift wohl weiterhin linear geschrieben werden muss.

Sonntag, 22. August 2010

Krankheit verändert. Was das Leben mitunter macht

Ich besuche eine Freundin. Sie gehört zu meinem Schicksalsnetzwerk. Die ersten zwanzig Jahre unseres Lebens haben wir miteinander geteilt – die darauf folgenden fünfundzwanzig nicht. Trotzdem sind wir Freundinnen geblieben. Irgendwie. Freundschaft vergeht nicht so einfach, auch wenn man sich nicht sieht. Verbindung bleibt – wenn man sich nicht entzweit. Vor etwa fünfzehn Jahren haben wir uns zuletzt getroffen. Ein paar Telefongespräche haben uns in den folgenden Jahren als Brücke gedient.

Schon lange habe ich vor, sie zu besuchen. Und ich muss gestehen, dass ich viele Gelegenheiten nicht genutzt habe. Jetzt aber ist es soweit. Mir ist ein bisschen bang ums Herz und auch sie musste überlegen, ob ihr mein Besuch nicht zu viel sei – aber wir verabreden uns.

Ohne Titel IV

ist es das, was ich sagen will?
ist es auf diese Weise
wie ich es machen will?
ist morgen der Tag meiner Ziele und wird
heute Nacht
die Ankunft meines Glücks
stattfinden?
Mit leiser Hoffnung am Arbeits-
tisch meiner Gedanken
bewegt sich meine Hand
entsprechend den verschlungenen
Pfaden meines Ichs

Wir sind am Sonntag um 16.00 Uhr verabredet. Da ich die Wegbeschreibung zwar notiert, aber nicht mitgenommen habe, muss ich den Ort suchen, die Adresse habe ich noch halbwegs im Kopf. Es ist ein regnerischer Nachmittag – warm aber dunkel und nass, obwohl es Hochsommer ist. Ich fahre durch ländliches Gebiet, wohlahnend, dass sich das gesuchte Haus nicht im Zentrum eines Ortes befindet, sondern außerhalb. Dort, wo es Wald und Wiesen gibt. Wo nicht zu viel Verkehr vorbeikommt, es keine Geschäfte oder Büros gibt. Das Leben hat sich hier von außen nach innen gestülpt.

Ich werde erwartet. Als ich auf dem Parkplatz ankomme, kommt sie mir entgegen. Was hat das Leben aus ihr gemacht? Ich erkenne sie, natürlich, auch wenn sie sich verändert hat. Was mich durchdringt ist ihre Stimme. Sie ist unverändert. Sie schwingt in meinem Herzen. Sofort. Und bringt Wärme. Meine Freundin lacht mich an. Medikamente können wohl einen Körper beeinflussen – eine Stimme aber nicht.

Ohne Titel III

wenn ich versuche mich zu greifen
bin ich verschwunden
wenn ich versuche mich aufzulösen
bin ich schwerfällig und erdverbunden
ein Bein im Leben, schwebe ich
doch immer über den Wolken


Ich bekomme Tee, Schokolade und den sonntäglichen Kuchen. Wir sprechen über alte Zeiten. Lachen immer wieder miteinander, obwohl die Umgebung so trostlos ist. Schauen uns Fotos an. Ich entdecke mich selber in ihrem Album. Als Kind, als Jugendliche. Wir haben selbstgestrickte Pullover an, unsere ersten coolen Jeans und später Latzhosen. Es gibt Bilder auf denen wir in Frankreich zu sehen sind, oder in Holland auf unserer ersten Reise ohne Eltern. Wir haben zusammen Theater gespielt und gesungen. Auf der Straße. Das Leben lag damals vor uns ausgebreitet.

Aber diese Zeit ist lang vergangen. Während ich meine Kinder groß gezogen, studiert, und mich gesellschaftlich eingebracht habe, umgezogen und gereist bin, hat meine Freundin die Wartezimmer und Sprechzimmer der Psychologen durchwandert. Die Diagnose steht schon lange fest. Zehn Jahre Odyssee, nun das Zimmer in diesem Heim – und auch das schon seit zehn Jahren. Ein selbstgeführtes, eigenständiges Leben bleibt ein Traum, eine Vorstellung, eine Illusion. Der Weg ist zu weit. Die Wünsche von damals bleiben als Wünsche erhalten.

Unsere Gesellschaft kann mit solchen „Fällen“ schlecht umgehen. Menschen werden „untergebracht“. Ihre Herausforderung besteht nun darin, sechs Stunden in der Woche (!) ihr Zimmer zu verlassen. Beschäftigungstherapie. Ansonsten dürfen sie im Rahmen des festgelegten Tagesablaufs in ihrem Zimmer bleiben. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Die Welt hat sich zusammengezogen, das Leben hat einen kleinen Radius.

Der Frühlingspunkt

Verträumt gehen wir
durch die Zimmer
wir rufen sie laut
die Zeit – doch sie will
nicht (kommen)
sie bleibt in der Ecke
liegen, wie ein vertrocknetes
Häufchen Herbstlaub


Ich habe sie besucht, meine Freundin aus Kindertagen. Eine Stunde lang – dann war es ihr genug. Und ich bin froh und betrübt und verwirrt und verstört. Sie gehört zu mir, zu meinem Leben – und das wird auch immer so bleiben, aber ich weiß nicht so gut, wie ich ihre Geschichte in mir integrieren kann. Etwas in mir lehnt sich auf. Muss das alles so sein? Gibt es da keine Möglichkeiten? Was könnte eine Heilung bewirken? Und was zeigt das Schicksal meiner Freundin mir? Was bedeutet so ein Lebenslauf – für sie, für mich, für die ganze Gesellschaft? – wie entsteht er und wohin führt er?

Meine Freundin behält ein Foto meiner drei Kinder – die so alt sind, wie wir damals waren. Sie realisiert ganz zaghaft, dass sie vielleicht in diesem Leben keine eigenen Kinder mehr haben wird… Die Welt ist ungerecht und unverständlich. Und ohne Reinkarnation und Karma kaum zu akzeptieren.

Donnerstag, 12. August 2010

„Dichtung setzt die Kommunikation voraus, die sie stiftet“

August. Stille hat sich über das Land gelegt. Sommerpause. Freunde sind verreist, Handwerksbetriebe machen Betriebsferien, Universitäten, Schulen und Kindergärten stehen still und verlassen da – das Land schweigt. Der Himmel macht mit, entweder regnet es in Strömen oder die Sonne brennt vom Himmel – die Stille bleibt, trocken oder nass, und umhüllt alle Daheimgebliebenen. Es ist fast wie im Winter – wie in der Weihnachtszeit, da hält die Welt auch inne. Aber es ist doch eine ganz andere Stille, die jetzt über dem Land liegt.

Aus dieser warmen Stille heraus zu schreiben bedeutet, ganz nah an meinem eigenen Herzen zu sein. Das Ergebnis ist nicht vorhersagbar. Jetzt am PC zu sitzen und die Finger über die Tastatur tanzen zu lassen heißt, mich vertrauensvoll hinzugeben. Was kommt? Welche Worte finden sich ein? Das alltägliche Funktionieren und Wollen hat aufgehört, messerscharfe Gedanken lassen sich nicht finden, es ist eine unsichtbare aber deutliche Kraft, die mich leitet, den leisen Worten, die sich vorsichtig zeigen, Gehör zu verschaffen. »Hinhören auf die stimmlose Stimme des Herzens heißt, sich selbst nicht belügen« sagt schon der alte Konfuzius.

Gerade für die Stimme des Herzens ist die äußere Stille von Nöten, damit im Inneren etwas erklingen kann. Diese Stille hat auch nichts mit Passivität zu tun, nein, gerade in diesem Bereich ist eine große Wachsamkeit gefragt. Es sind mitunter die unscheinbareren Worte, die sich einstellen, die unbekannteren Bedeutungen, die unerwarteten Zusammenhänge. Wie übersetzt man die „stimmlose Stimme des Herzens“ in allgemeingültige und –verständliche Worte des rauschenden Alltags?

Stille kann warm oder kalt sein – aggressiv oder sanft. Stille kann einladen oder abgrenzen, einsam machen oder eine tiefe Verbindung schaffen. Stille bedeutet, dass Geräusche verschwinden und Bewegungen sich reduzieren. Worte reagieren auf Stille. Und sie suchen die Kommunikation - auch in der Stille. Das geschriebene Wort kennt die Stille gut. Nicht immer erhebt sich eine Stimme, die auf gedruckte Worte reagiert. Das gesprochene Wort ist da anfälliger. Stille erträgt es nur, wenn es durch Anerkennung getragen wird.

Worte setzen sich aus den gleichen Buchstabenkombinationen zusammen, ob sie geschrieben oder gesprochen werden. Schriftdeutsch und gesprochenes Deutsch haben die gleiche Quelle, eine Intention und auch das gleiche Ziel, das menschliche Herz – und doch agieren sie in unterschiedlichen Reichen.

Hilde Domin schreibt etwas, was mich in diesem Zusammenhang sehr beschäftigt:

„Der Mut, den er [der Schreibende] braucht, ist dreierlei Mut:

Der Mut zum Sagen, der der Mut ist, er selbst zu sein, der Mut zur eigenen Identität.

Der Mut zum Benennen, der der Mut ist, die Erfahrung wahrhaftig zu benennen, ihr Zeuge zu sein: das heißt, nicht weg- oder umzulügen, was ja opportun sein könnte.

Der dritte Mut ist der, an die Anrufbarkeit der andern zu glauben. Denn wenn er auch nicht ›für andere‹ im strikten Sinne schreibt, überhaupt nicht ›um zu‹, so müsste er doch verstummen, wäre nicht in ihm der Glaube an den Menschen, ohne den kein Wort geschrieben werden könnte. Noch im negativsten Gedicht ist dieser Glaube, dass das Wort ein Du erreicht, Dichtung setzt die Kommunikation voraus, die sie stiftet.“


(Aus: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen.)

Den Mut zum „Sagen“ und „Benennen“ kenne ich gut, es ist die Kraft, die ich brauche, um zu schreiben – sie kommt aus der Stille. Aber, ob ich genügend Mut aufbringe, damit auch die „Anrufbarkeit“ an meine LeserInnen deutlich wird, kann ich selbst nicht entscheiden. Da dürfen sich, trotz der Sommer-Stille, meine LeserInnen zu Wort melden. Ist das geschriebene Wort, ob es sich nun um ein Gedicht, eine essayistische Miniatur oder sonst einen Text handelt, kommunikativ? Was entsteht aus der Stille?

Mittwoch, 4. August 2010

Irdische Hinterlassenschaften – die Wohnungen von Puschkin und Dostojewski

In eine fremde Stadt zu kommen, heißt für mich zunächst unbekannte Luft zu atmen. Sie ruft mich dazu auf, Anknüpfungspunkte zu suchen um irgendwie anzukommen. Mich einzuordnen. Was klingt und schwingt in der Stadt St. Petersburg? Wofür öffne ich mich, worauf richte ich meine Aufmerksamkeit? Ich weiß also nicht, was ich suche und gehe doch so durch die Stadt, als ob es etwas zu finden gäbe. Neben meiner generellen Sympathie für die Stadt und dem geschichtlichen Interesse seines Auf und Nieder ist es natürlich die Literatur, die mir Tore zur verborgenen Seite der Stadt öffnet.

Wir wohnen in einer Ferienwohnung direkt an der Newa, einige Minuten von der Eremitage entfernt. Die Straße ist vierspurig und Tag und Nacht rattern die Autos darauf, als sei sie eine Autobahn. Tags ist der Fluss voller kleiner Boote, nachts, wenn die Brücken hochgefahren werden, rauschen große Schiffe lautlos an unseren Fenstern vorbei. Das prächtige Haus in dem wir wohnen – nachts mit Lichterketten beleuchtet - ist zweigeteilt. Die Wohnung ist groß, hell und mit Ikea-Möbeln eingerichtet. Und das Treppenhaus ist ein alter, dunkler, schlechter und vor allem dreckiger Albtraum. Eine unvereinbare Zweiteilung, die es noch öfters in der Stadt zu finden gibt.

Wie steht es aber zwischen den St. Petersburger Dichtern und mir? Ich hatte einmal eine beeindruckende Tolstoi-Phase in meinem Leben. Das ist lange her. Er hat zwar in der Nähe, aber gar nicht in der Stadt gelebt. Dostojewski habe ich gelesen. Den großen Roman „Schuld und Sühne“ und kleinere Erzählungen. Ich erinnere mich an jede Menge dunkler und kalter Szenen – während ich warm in meinem Bett lag und innerlich in den Weiten Russlands verschwand. Auch habe ich einen Band mit Gedichten – russisch/deutsch. Puschkin natürlich, den großen Nationaldichter. Ich lese dann aber doch lieber die deutsche Übersetzung, die russischen Buchstaben kann ich zwar zu Worten zusammensetzen, aber in meiner Sprache nicht wiederfinden…

Es gibt eine ganze Menge Petersburger Dichter, die sehr berühmt geworden sind. Puschkin, Anna Achmatowa, Marina Zwetajewna… Sie sind alle längst tot und Literatur lässt sich überall lesen, wenn sie denn übersetzt und erhalten wird. Was gibt es also in ein paar Tagen in Petersburg, der Wiege der großen Revolution, diesbezüglich zu erleben? Was die Zeit überdauert hat sind Häuser. Nicht alle natürlich, aber viele. Und so lassen sich Wohnungen oder Häuser berühmter Menschen besuchen – wenn sie denn von ihrer Nachwelt erkannt worden sind.

Das Wort Wohnung bedeutete in althochdeutscher Zeit „zufrieden sein“ – es ist also ein geschützter Ort, der nicht nur leiblichen Schutz bietet, sondern offenbar auch seelischen. Ein friedlicher Ort. Im Mittelhochdeutschen verändert sich die Bedeutung dann, unser heutiges „Wohnung“ bedeutete damals „Gewohnheit“. Die Wohnung wird also ein Ort, den man gewohnt ist, der zum alltäglichen Leben dazugehört – die seelische Geborgenheit scheint nicht mehr im Vordergrund zu stehen. Trotzdem haben fremde Menschen an so einem Ort eigentlich gar nichts zu suchen.

Im Falle der beiden Herren Dostojewski und Puschkin, deren Wohnungen wir besucht haben, haben wir es auch nicht mehr mit einer einfachen Wohnung zu tun. Nein, diese Wohnungen sind zu Museen avanciert. Und ein Museum ist ursprünglich ein Heiligtum der Musen. Ohne Menschen verfallen Häuser, wenn die Bewohner nicht mehr da sind, muss man sich überlegen, was mit der verlassenen Bausubstanz passiert. In welchem Verhältnis stehen nun aber die Behausungen der Dichter und das heutige Museum?

Ja, dazu kann ich natürlich gar nichts sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals dabei war. Puschkin ist vor fast zweihundert Jahren gestorben. Er war nur 37 Jahre alt und ist an den Verletzungen eines Duells verblichen. Er hat am Ende seines Lebens ganz in der Nähe des Zarenpalastes gelebt – diese Wohnung kann man heute betreten. Und was da nicht alles gezeigt wird. Den handgeschriebenen Mietvertrag, Manuskripte, Alltagsgegenstände, die Tür, durch die er nach der Verletzung getragen wurde, und, und, und.

Es ist schön, so einen irdischen Ort besuchen zu können, weil wir ja selbst alle auf der irdischen Welt leben und wenig andere Möglichkeiten haben. Aber spüren lässt sich in der Wohnung nicht mehr viel. Da scheint doch der Griff nach den literarischen Hinterlassenschaften mehr zu bieten.

Bei Dostojewski ist das etwas anders. Er hat in mindestens zwanzig Wohnungen in Petersburg gelebt, vornehmlich in Eckhäusern, mit Blick auf eine Kirche. Jeder Reiseführer hat ein Kapitel, das den Weg durch Dostojewskis Hinterhöfe beschreibt und ein anderes Petersburg zeigt, als es durch die Zaren repräsentiert wurde. Dostojewski hat Russland mit seinen dunklen Seiten im Ausland sehr bekannt gemacht. Die Wohnung, die wir anschauen, hat eine enigmatische Ausstrahlung.

Denn auch diese letzte Wohnung ist heute natürlich ein Museum – ein Heiligtum also, in dem nichts berührt werden darf – aber überrascht war ich schon, denn die finsteren, verfallenen und dreckigen Hinterhöfe passten mit dieser Wohnung so gar nicht zusammen. Seit Dostojewskis Tod sind 130 Jahre vergangen – wer weiß, was in dieser Zeit alles in und mit diesem Haus geschehen ist. Die Streichholzschachteln aber, die es in dem Souvenirladen zu kaufen gibt, sind mit Bildern eben jener verfallenen Häuser und Höfe geschmückt, die einem das alte Russland näher bringen. Ein Souvenir also, das ich nach Deutschland mitnehme.

Verlassene Wohnungen, in denen seinerzeit so richtig gelebt wurde und unglaubliche Texte entstanden sind, und die dann zu toten Museen avancieren, transportieren eben doch etwas mehr, als die übersetzten Worte, die ich, fern vom Ort des Geschehens in der warmen Sommersonne lesen kann. Wenn ich heute ein Gedicht von Puschkin lese, oder in eine Erzählung von Dostojewski eintauche, dann wandere ich innerlich durch die Wohnungen, die ich in Petersburg betreten habe – auch wenn ich nicht weiß, wie viel sie mit ihren einstigen Bewohnern noch gemein haben.

Donnerstag, 29. Juli 2010

Worte einer Dichterin

Das Gefieder der Sprache

Das Gefieder der Sprache streicheln
Worte sind Vögel
mit ihnen
davonfliegen.

Hilde Domin in: Gesammelte Gedichte.

„Jede Entscheidung für ein Wort ist zugleich für und gegen. Diese Entscheidung ist eine automatische und doch eine bewusste. »Der Widerspruch ist der Vater, die Nachahmung die Mutter des Schöpferischen«, definiert es Benjamin. »Das Schöpferische – dem tiefsten Wesen nach Variante.« Daher gibt es kein Wort und kein Bild, das nicht neu gemacht werden kann. Man hört das bereits Gesagte mit, an dem und gegen das man sich orientiert – wobei heute der Widerspruch Stimmführer ist, in diesem Parallelogramm der Kräfte.“

Hilde Domin in: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen.

Donnerstag, 22. Juli 2010

Eine Stadt im Osten: St. Petersburg

Städte werden von Menschen geplant, gebaut, bewohnt, zerstört, verherrlicht oder verkannt. Städte entstehen nicht ohne menschlichen Willen. Die Idee einer Stadt lebt in Köpfen und Herzen, die Umsetzung einer Stadt geschieht durch die Arbeit von Menschenhänden. Städte bestehen aus Häusern und Gebäuden, Straßen und Plätzen – durch verschiedene Anordnungen und das Arrangement von Steinen, durch das Verhältnis von Natur und Kultur. Menschen prägen Städte und Städte prägen Menschen.

Peter der Große hat um 1700 eine Reise nach Europa gemacht. Er suchte Anregungen um sein Land zu modernisieren. Besonders fasziniert hat ihn die Stadt Amsterdam mit dem vielen Wasser und den dazugehörigen Schiffen. Da er nicht nur einen starken Willen besaß, sondern auch noch Macht und unerschöpfliche Mittel, wurde 1703 mit dem Bau der Stadt Sankt Petersburg begonnen. Seine Wahl fiel auf die Newa-Mündung, ein sumpfiges Gebiet am Finnischen Meerbusen. Hier entstand am Ostseeufer das offene Fenster zu Europa.

Bereits 1706 wurde St. Petersburg zur Hauptstadt des Landes, denn sie war als solche konzipiert und wurde auch als solche realisiert. Viele Tausende von Leibeigenen haben die Stadt errichtet – viel Blut ist geflossen - und der Adel siedelte sich in prächtigen Gemäuern an. Zweihundert Jahre lang haben die Zaren in St. Petersburg geherrscht, bis sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der russischen Bühne abtreten mussten. Es folgten Revolutionen und Aufstände, Neuorientierungen und dann 900 Tage Belagerung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg sowie 70 Jahre Sozialismus.

All dies hat die Stadt über sich ergehen lassen. Auch heute noch ist sie eine prächtige Millionenstadt – die nördlichste Europas. Wenn eine Stadt einmal da ist, dann erträgt sie geduldig, was die Menschen in und mit ihr anstellen. Sie zeigt unumwunden ihre Wunden neben ihrer vergangenen Pracht. Schriftsteller wie Dostojewski, Puschkin oder Belyj erzählen die Geschichten von Einzelschicksalen – eingebettet in die Hinterhöfe der Stadt und die Intrigen der Mächtigen.

Weder im alten noch im sozialistischen Russland war es den Menschen vergönnt, ihre Individualität herauszustellen, auszuprägen, geschweige denn sie auszuleben. Die Fähigkeit sich unter- und einzuordnen kann man auch heute noch wahrnehmen, zum Beispiel im Ballett. Fasziniert bin ich den Tänzern mit meinem Blick über die Bühne gefolgt. Kein Schwan ist vom anderen zu unterscheiden, kein Tänzer vom anderen. Aber auch der Gesichtsausdruck eines Verkäufers in einem kleinen Produktui-Laden, der eines Verkäufers von Eintrittskarten, eines Busfahrers oder Bootsführers ist nicht zu entschlüsseln. Die Menschen wirken verschlossen und unnahbar – was innen geschieht bleibt verborgen.

Junge Brautpaare lassen sich an allen prominenten und erhabenen Orten fotografieren. In der Eremitage, in Peterhof oder in prächtigen Kirchen. Stolz oder hochmütig wirkt aber niemand. Man nimmt den Lauf der Dinge, und bewegt sich zwischen den jeweiligen Kulissen, die das Zentrum der Gegenwart bilden. Die russische Sprache ist allgegenwärtig, knapp dreihundert Millionen Menschen sprechen Russisch, als Tourist tut man gut daran, wenigstens die kyrillischen Buchstaben entziffern zu können um sich zu verständigen.

Die weißen Nächte im Sommer lassen die Nacht zum Tag werden. In diesen Wochen schläft kaum jemand. Die Brücken- und Uferfassaden sind in der Dämmerung hell erleuchtet und die Menschen sind in der nächtlichen Metropole unterwegs, als wenn es später Nachmittag wäre. Man sitzt, steht und läuft miteinander, trinkt, redet oder fotografiert sich. Der Newski-Prospekt – prominenteste Straße der Stadt – ist sechsspurig, und die Geschwindigkeit der an Straßencafés vorbei rauschenden Autos weit über unserer Gewohnheit. Straßenlärm und Pracht liegen nah beieinander. Ihren herausgehobenen Status wird diese Straße gewiss nicht verlieren.

Der Blick auf die zurückliegende Geschichte lässt manches der verwirrenden Zeugnisse verstehen. Als Frage bleibt, was das russische Volk vorhat. Die Stadt, die für uns im Osten und für das unermessliche russische Reich im äußersten Westen liegt, ist nicht unbedeutend, nein, hier wirken gewaltige Kräfte, die gelenkt werden wollen. Mich hat die Metropole betroffen gemacht.

Wohin geht die Reise der Stadt, werden die Russen erwachen und wird die Blüte St. Petersburg aufs Neue erblühen?

Donnerstag, 15. Juli 2010

Schicksal: Wissen, was man wirklich, wirklich will - und kann

Ein Frauenschicksal in Paris um 1900.
Camille Claudel wusste, was sie wollte. Vom ersten Moment an. Sie wurde als Bildhauerin geboren. Sie entdeckte den Ton und die Steine schon in ihrer frühen Kindheit. Es scheint, als ob sie an ihrer Berufung nie gezweifelt hätte. Schwierigkeiten hatte sie „lediglich“ mit ihrer Zeit. Mit ihrer Familie – vornehmlich ihrer Mutter – und dem großen Meister in Paris, mit dem sie sowohl fachlich als auch menschlich eine intensive Nähe verband, die jedoch tragisch zerbrochen ist. Camille Claudel konnte ihrer Berufung nur einige Jahre nachgehen. Die letzten zweiunddreißig (!) Jahre ihres Lebens war sie in einer „Anstalt“ eingesperrt und hat nie wieder Ton berührt.

Welche Umstände haben sie in dieses Schicksal geführt – und wohin führt sie ihr Schicksal beim nächsten Mal?

Ein Männerschicksal in Florenz und Rom um 1500.
Michelangelo war ein ähnliches und doch konträres Schicksal beschieden. Auch er ein (der!) berufene(r) Bildhauer und Maler vom ersten Moment an. Auch er musste gegen den Willen seiner Familie anarbeiten, vornehmlich gegen den Vater, aber es ist ihm gelungen, er hat sich durchgesetzt. Seine Ziele standen ihm immer klar vor Augen. Und dafür ist er eingetreten. Auch wenn er – schon als Meister – in die Zwänge von Päpsten geriet, immerhin hat er gearbeitet. Steine behauen - erschaffen. Ein unglaubliches Werk hinterlassen. Seine Skulpturen und Fresken überstrahlen heute die menschliche Einsamkeit dieses großen Mannes.

Was ist dieser Inkarnation vorausgegangen, dass sie so verlaufen ist und welche Umstände, Fähigkeiten und Willensintentionen mögen ihr folgen?

Wenn man diese beiden Biographien durch ihr jeweiliges Leben verfolgt, wird schnell deutlich, wie viel Wille (und Können!) darin liegt. Gerichteter Wille. Beide mussten sich mit zeitlichen, menschlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zurechtfinden – und das ist ihnen sehr unterschiedlich gelungen – aber der Wille war eindeutig und unumstößlich und so konnten ihre Gaben erblühen und irdisch ankommen. Sie waren beide Künstler. Und sie wussten, was sie konnten, was sie wollten. Oder: was sie sollten. Jedenfalls sieht das im Nachhinein und aus der Ferne so aus.

Nicht jeder Mensch wird mit so einem zielgerichteten Willen und einem daraus entstehenden Können geboren. Nein, ganz im Gegenteil. Welche Heerscharen von Menschen gibt es, die nicht so genau wissen, wozu sie hier sind, was ihr Auftrag, ihr Beitrag ist. Welcher Keim in ihnen schlummert, welche Saat aufgehen möchte. Ganz abgesehen davon zu wissen, was die Saat überhaupt braucht um aufzugehen.

Diesbezüglich scheint mir der Spannungspunkt zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft zu liegen. Zwischen mir und dir. Zwischen dem Individuum und dem Schicksalsnetzwerk, das ihn umgibt. Weiß ich selber, was ich will? Schaut meine Umgebung darauf, was ich kann? Beide Seiten haben Möglichkeiten Beiträge zu geben, dass der Einzelne zu dem erwacht, was in ihm schlummert und das auch handhabbar zu machen. Möglichkeiten zu bieten. Gegenseitige Unterstützung darzureichen. Einander einzuladen hervorzukommen, sich zu zeigen und dann anzukommen.

Über die berühmte Parzival-Frage: „Oheim, was wirret dir?“ habe ich schon öfters geschrieben. Die Wichtigkeit dieser Frage bleibt, sie ist der Ausgangspunkt meiner Anteilnahme am Anderen. Und ich glaube weiterhin, dass diese Frage von konstitutioneller Bedeutung für das soziale zwischenmenschliche Leben ist. Sie birgt ein großes Potential. Es gibt aber in der Parzival-Erzählung noch eine weitere Frage, die die dazugehörige Gegenseite zu der Frage an den anderen darstellt.

In seinem letzten Kampf begegnet der verzweifelte Parzival seinem Bruder Feirefiz – zunächst ohne dass sie sich erkennen. Denn sie wissen nichts voneinander. Sie kämpfen hart miteinander und so lange, bis Parzivals Schwert zerbricht. Und an Stelle dessen, dass Feirefiz nun Parzival besiegt, stellt er ihm eine Frage: „Wer bist du?“

Diese einfache Frage hat eine große Bedeutung und stellt die Gegenseite zur Frage an den Anderen dar. Parzival beginnt sich zu besinnen und etwas von sich preiszugeben. Er schaut auf sich selbst. Taucht in sich ein und eröffnet dem Anderen, seinem Bruder, einen Blick in sein Inneres. Im Mittelalter bezog sich die Antwort auf den Stand, die Herkunft etc. Ich glaube aber, dass die Möglichkeit, die in dieser Frage steckt, viel mit unserer Zeit und dem Wissen, was man wirklich, wirklich will zu tun hat. Eine Suche beginnt erst dann, wenn man den Ausgangpunkt kennt.

Denn erst nach dieser Begegnung mit Feirefiz und dem langen, langen und verzweifelten Weg dorthin, kann Parzival wider Erwarten durch Kundrie zum Gralskönig berufen werden. Was er gelernt hat ist: auf sich selber UND auf den Anderen zu schauen – Anteil zu nehmen.

Den eigenen Willen und das daraus entstehende Können zu entdecken und damit auf eine Reise zu gehen, hat mit mir selber und dem Schicksalsnetzwerk zu tun, in dem ich mich befinde. Wenn wir beginnen miteinander zu sprechen, einander davon zu erzählen, wer wir selber sind und den anderen zu fragen, womit er ringt, werden viele neue Räume geschaffen, wird die Saat gelegt, dass Blumen erblühen können.

Nicht jeder von uns ist stark wir Michelangelo oder verzweifelt wie Camille Claudel (und nicht jeder ein Bildhauer) – in jedem von uns steckt aber der Keim einer Blüte, die erblühen kann, wenn wir einander anschauen und uns anschauen lassen. Wie würde sich die Welt verändern, wenn jeder wüsste, was er wirklich, wirklich will. Und das dann auch tut.