Freitag, 10. April 2015

Leben und Lernen. Woran orientiere ich mich, wenn ich mich verändern möchte?



Wie erhalten sich Menschen lebenslang die Fähigkeit immer wieder umzudenken, neu zu schauen, anders zu handeln, als sie es bislang gewohnt waren? Wie kann ich flexibel und gleichzeitig selbstsicher bleiben, wenn es heißt etwas (noch) nicht zu können, etwas Neues auszuprobieren, was bislang nicht in den eigenen Erfahrungshorizont gehört, sich einzulassen auf Situationen, die noch unbekannt sind, Positionen einzunehmen, auf die ich nicht aus Erfahrung zurückgreifen kann, sondern die dazu auffordern mutig und vorbehaltslos unbekannte Wege zu gehen? Woran orientiere ich mich?

Die Spannung zwischen Leben und Lernen ist ein Balanceakt zwischen Kontinuität und Veränderung. Auf der einen Seite bin ich als Individuum dazu aufgerufen meine Identität zu entwickeln und zu festigen – mich selber im Laufe der Kinder- und Jugendjahre kennen zu lernen, mir meine Werte und Normen bewusst zu machen, eigenständige (wiedererkennbare) Positionen zu etablieren und individuellen Motiven zu folgen, die zu meiner Identität gehören. Auf der anderen Seite muss ich, gerade als gestandenes Individuum, offen und flexibel für Neuerungen sein, die mich (möglicherweise) innerhalb meiner gewohnten Lebensbahnen verändern und mich dazu auffordern eingefahrene Spuren zu wechseln. Kein Lernprozess kann ohne Veränderung der Identität stattfinden, denn zu lernen bedeutet immer in innerer Bewegung und damit in einem potentiellen Veränderungsmodus zu sein. Wenn ich mir vornehme Italienisch zu lernen und das auch tue, wird es zwischen dem Zustand „Die-Sprache-noch-nicht-beherrschen“ und „Die-Sprache-tatsächlich-beherrschen“ in meinem eigenen Selbstverständnis und damit auch in meiner nach außen wahrnehmbaren Identität einen Unterschied geben.

Die grundlegende Voraussetzung für intendierte aber auch inzidentelle Lernprozesse ist das Leben an sich, das mir als Individuum geschenkt ist, solange ich physisch existiere. Etymologisch kommt das Verb „leben“ von „bleiben“ (beharren und dauern). Die menschliche Ausgangsposition hat also mit Beständigkeit zu tun, die eine gewisse Kontinuität voraussetzt und nach ihr strebt (sich einrichten und Bewährtes bewahren). Im Gegensatz zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes „leben“ kommt das Verb „lernen“ von „leisten“, „das Verstreut umherliegende aufsammeln“, „Spuren verfolgen“[1]. Damit ist das Ringen zwischen den Begriffen leben und lernen benannt, es äußert sich in entgegengesetzten Polen: Leben heißt übertragen, der zu bleiben der ich bin und Lernen heißt im übertragenen Sinne mich auf neue, unbekannte Spuren zu begeben, um mich zu verändern. Diese Dichotomie lässt sich lösen bzw. in eine produktive Spannung verwandeln, wenn man sich auf die Spur begibt, einmal nachzulesen, wie die von Rudolf Steiner inspirierte (Waldorf-)Pädagogik und Andragogik (Erwachsenenbildung) damit umgeht und welche Konsequenzen daraus für die Fähigkeit lebenslang zu lernen entstehen.

In einer knappen Ausführung macht Rudolf Steiner darauf aufmerksam, dass es sieben Lebensprozesse[2] sind, die Leben ermöglichen und erhalten und damit grundlegend für lebendige Organismen sind. Im Besonderen führt er dies für den Menschen aus. Als notwendige Lebensprozesse nennt er die Atmung, die Erwärmung, die Ernährung, die Absonderung, die Erhaltung, das Wachstum und die Reproduktion. Es sind dies die Lebenskräfte, die ständig ineinandergreifen, ohne einen dieser Prozesse wäre Leben auf Dauer gesehen nicht fortführbar. Die Lebensprozesse ermöglichen die Lebensfähigkeit des Menschen, damit er physisch existieren kann. Zur physischen Grundlage kommen aber menschliche und soziale Bedürfnisse hinzu, z.B. sich das private Leben einzurichten, Gesellschaften zu organisieren und Konzepte zu entwickeln. Schon beim kleinen Kind lässt sich sehen, dass es den drei menschlichen Trieben Erkenntnis, Entwicklung und Verbesserung unterliegt und diese ständig anwendet (ein schönes Beispiel ist das Laufen Lernen). Dem Menschen reicht es nicht aus physisch nur zu existieren, sondern er möchte sein Leben auch gestalten und sich Fähigkeiten und Fertigkeiten erobern – er möchte hinzu lernen.

Philipp Gelitz und Almuth Strehlow (beide Erzieher) machen in ihrem Buch: „Die sieben Lebensprozesse. Grundlagen und pädagogische Bedeutung in Elternhaus, Kindergarten und Schule“[3] sichtbar, welchen Wert es hat, sich die einzelnen Lebensprozesse in ihren Vorgängen deutlich zu machen und welche Möglichkeiten es gibt, eine gute Ausbildung und Unterstützung der Lebensprozesse in der Kindheit zu etablieren. Der entscheidende Zusammenhang liegt nämlich darin, dass die Lebensprozesse eine Grundlage für Lernprozesse jeglicher Art sind. Alle Lebensprozesse sind zwar zu Beginn des Lebens schon vorhanden, es dauert aber Jahre, bis sie sich so entwickelt und eingespielt haben, dass der Körper in dieser Hinsicht „automatisch“ funktioniert.

Über die physische Funktion der Lebensprozesse hinaus stehen diese Kräfte der seelischen Ebene zur Verfügung und können für intendierte Lernprozesse produktiv genutzt werden. Alles, was in den ersten Jahren des Lebens physisch errungen wurde, kann im Jugend- und Erwachsenenalter ins Seelische und Geistige transformiert und aktiv eingesetzt werden. Coenraad van Houten († 2013) hat sich in Jahrzehnte währender Arbeit mit dieser Transformation beschäftigt und eine Erwachsenenbildung begründet[4], die sich auf die Menschenkunde Rudolf Steiners bezieht und das Lernverständnis der Waldorfpädagogik über die Kindheit und Jugend hinausführt. Er hat ein probates Mittel gefunden, die Lebensprozesse in Lernprozesse zu überführen. Es folgt nun, um einen ersten Eindruck zu vermitteln, eine konzise Darstellung der Übertragung von Lebensprozessen in Lernprozesse, die Coenraad van Houten dem Erwachsenen für den eigenständigen und bewussten Lernprozess anbietet:

Was im Physischen die Atmung ist, ist auf der seelischen, emotionalen Ebene die Wahrnehmung, die jedem Lernprozess als erster Schritt zu Grunde liegt. Bevor ich mich nicht vorurteilsfrei und offenen einem Lerngegenstand nähere, kann ich mir kein Urteil darüber erlauben. (In unserer schnelllebigen Zeit ist gerade das oft ein Problem, denn statt der Wahrnehmung wird manchmal an dieser Stelle bereits ein Urteil gefällt.) Mit einer möglichst selbstlosen Wahrnehmung des Lerngegenstandes beginnt ein integrierter Lernprozess, der dazu führen soll, sich das Neue wirklich zu eigen zu machen.

An zweiter Stelle folgt auf der Ebene der Lebensprozesse die Erwärmung, die der menschliche Organismus immer wieder ins Gleichgewicht bringen muss, um zu „funktionieren“. So ist es auf der Ebene der Lernprozesse das Interesse, das ich dem Lerngegenstand entgegen bringen muss. Ohne mich mit dem entsprechenden Inhalt zu verbinden, ihn emotional an mich heranzulassen – ob in sympathischer oder antipathischer Weise spielt dabei keine Rolle – habe ich keinen wirklichen Zugang zu dem, was vor mir steht.

Erst jetzt kann ich, nach der Wahrnehmung und meiner Verbindung mit dem Lerngegenstand beginnen, mich tatkräftig und aktiv mit ihm auseinander zu setzen. Auf der Ebene der Lebensprozesse ist es die Ernährung, die der Körper braucht, um sich weiter zu entwickeln. Im Lernprozess findet an dieser Stelle ein Verarbeitungs- und Sortierungsprozess statt, der mich dazu auffordert einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, Dinge herauszugreifen, zu bearbeiten, kritisch zu hinterfragen, die ich weiter vertiefen und bearbeiten will.

Nachdem ich in den ersten drei Schritten den Lerngegenstand „in mich hineingenommen“ habe, muss nun eine „Verdauung“ stattfinden. Auf der Ebene der Lebensprozesse ist es die Absonderung derjenigen Stoffe, die ich (im Moment) nicht weiter gebrauchen kann. Im Lernprozess ist das die Individualisierung, die von mir Entschlüsse verlangt, mit welchen Aspekten ich weiterarbeiten will und wie ich sie bislang bewerte. Jeder Lernende trifft an dieser Stelle andere Entscheidungen, die sich biographisch und individuell bezogen auf die Lerngeschichte oder die Lernziele ergeben.

In den folgenden drei Schritten trete ich mit dem, was mich beschäftigt wieder nach außen. Im Lebensprozess folgt die Erhaltung. Das Neue, mit dem ich mich auf die eine oder andere Art anfreunde, muss erhalten werden. Dafür ist die Erinnerung notwendig und der aktive Umgang mit den neuen Erkenntnissen, den erfahrenen Erlebnissen oder den sozialen sowie ästhetischen Vorhaben. (Wenn ich eine neue Sprache lerne und sie nicht einsetze und nicht weiter übe, werde ich sie schnell wieder vergessen.)

Auf die Erhaltung folgt das Wachstum: In Bezug auf den Lernprozess ist es die Transformation in angrenzende Gebiete, die Übertragung auf ähnliche Fälle, die Erweiterung in benachbarte Disziplinen. Neue Erkenntnisse wachsen dann, wenn sie über die Quelle hinaus angewendet und integriert werden können, wenn die eigenen Lernerfahrungen erweitert werden und damit Brücken in angrenzende Bereiche gebaut werden.

Als letzten Prozess in Bezug auf die Lebensprozesse nennt Rudolf Steiner die Reproduktion, so dass die Menschheit sich durch Raum und Zeit weiterentwickeln kann und nicht plötzlich „aufhört“. Auf der Ebene des Lernprozesses ist dieser siebte Schritt die Krönung und beinhaltet die frei gewordene Kreativität, die sich aus dem ursprünglichen Lernvorhaben entwickelt hat. Wenn ich einen Lernprozess durch alle Schritte hindurch vollziehe, mache ich mir die Sache so zu eigen, dass ich sie souverän und individuell einsetzen kann (ich beherrsche eine fremde Sprache in jeglicher Hinsicht und bin z.B. auch in der Lage sie sowohl künstlerisch als auch unter Druck anzuwenden). Ich bin „Herr der Sache“ geworden, ein Spezialist und Könner, ich kenne mich darin aus und kann meine Position eigenständig vertreten.


Obgleich eine gewisse Hierarchie in den Lernprozessen offensichtlich ist, müssten sie doch eigentlich als Kreislauf dargestellt werden, denn sie durchdringen sich immer wieder gegenseitig. Das, was ich heute neu wahrnehme hat unter Umständen Auswirkungen auf das, was ich in einem anderen Prozess gerade verarbeite oder übe. Das Leben bietet die Möglichkeit zu lernen, sich weiter zu entwickeln und wach zu bleiben – dabei geht es nicht statisch oder systematisch vor. Leben und Lernen sind miteinander verschränkt, sie gehen auseinander hervor und ermöglichen sich gegenseitig.

Mit dem Erwachsenenalter (etwa ab einundzwanzig Jahren) haben sich die Lebensprozesse soweit vervollständigt und eingespielt, dass der Mensch in der Lage ist, diese Kräfte aktiv, bewusst und eigenständig über die Lebensprozesse hinaus für den eigenen Lernprozess einzusetzen, um so nach eigenem Belieben weiter den Spuren zu folgen, die für seine Lernziele relevant sind. Wenn der siebte Schritt vollbracht ist, also tatsächlich etwas gelernt wurde (was man nicht mehr vergisst) und eine individuelle und freie Kreativitätsstufe erreicht wurde, können Spuren hinterlassen werden, denen dann wieder jemand folgen kann, der sich in einen Lernprozess begibt. Leben und Lernen gehören unumschränkt und spannungsvoll zusammen, gemeinsam tragen sie dazu bei, dass der Mensch lebenslang geistesgegenwärtig, kreativ und entwicklungsfähig bleibt.


[1] Siehe DUDEN 7. Etymologisches Wörterbuch.
[2] Steiner, Rudolf: Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte. GA 170, Dornach ³1992, 7. Vortrag.
[3] Gelitz, Philipp und Strehlow, Almuth: Die sieben Lebensprozesse. Grundlagen und pädagogische Bedeutung in Elternhaus, Kindergarten und Schule. Verlag Freies Geistesleben, 2014.
[4] van Houten, Coenraad: Erwachsenenbildung als Willenserweckung. Stuttgart ³1999.








Donnerstag, 2. April 2015

Klingender Name. In der Fremde zu Hause


Ich setzte mich an den Schreibtisch, denn ich hatte zwei Stunden Zeit. Ich hatte den Tisch für mein Vorhaben extra leergeräumt. Papiere, Utensilien und Kram aus Handtaschen und Koffern hatte ich fein säuberlich auf das Fensterbrett gestapelt. Nichts sollte mir im Weg sein, der Tisch frei – um die unaufgeräumten Dinge in meinem Leben würde ich mich später kümmern. Es galt mir Gedanken zu machen, zu schreiben, einen Entwurf auf den Bildschirm zu bringen. Wenigstens eine Gliederung anzulegen – überhaupt: festzulegen worum es ging, denn bis auf das inhaltliche Ziel stand nichts fest.

Als Lara den Laptop das nächste Mal aufklappte, saß sie bereits im Zug. Da sie den frühen genommen hatte, war es im BordBistro ruhig. Das Service-Team wusch Tassen ab und legte Croissants in die Mikrowelle. Als der Schaffner kam nickte er ihr zu und gesellte sich zu der dunklen Kleinen hinter der Theke, mit der er offensichtlich einen Morgenplausch zu halten gedachte. Karlsruhe – Mannheim: Dreiundzwanzig Minuten hatte sie Zeit, bis der Zug das nächste Mal halten würde. Sie schaute auf ihre Finger und knibbelte an einem Hautfetzchen herum. Dann las sie den bislang verfassten Text, änderte einige Adjektive und rief Richard an.

Richard war, trotz seines Namens, kein Deutscher. Er war zwar nicht politisch vertrieben worden, hatte sich aber für eine interne Emigration entschieden (wie er das nannte) und sich eine landesübliche Telefonverbindung legen lassen. An seinem neuen Wohnort hatte er genügend Luft zum Atmen (womit er seinen Schritt begründete). Er nahm nicht ab. Sie wusste aber, dass er ihren Anruf auf dem Display sah. Schade. Lara lauschte dem Klingelton hinterher und legte dann das Handy neben sich. Sie musste es selber schaffen. In ihrem Kopf überkreuzten sich verschiedene Stimmen, sie fühlte sich herausgefordert, ihr blieben vorerst neunzehn Minuten.

Ihre Großmutter mütterlicherseits hätte gesagt, dass sie sich in der Fremde, die ihre nationale Heimat war, niemals mehr so zu Hause fühlen würde, wie in der Fremde, in der ihre Familie seit mehreren Generationen gelebt hatte und die ihre emotionale Heimat war. Lara hörte ihre Stimme als sie noch ein Kind gewesen war. Die Großmutter sprach von Birken und Seen. Von Blaubeeren und den Sonnenuntergängen über der Ostsee. Laras Großmutter war Estin. Nein Deutsche. Sie war in Estland geboren - in Dorpat, neben der Universität - und hatte damals einen russischen Pass. Also Russin? Aber ihre Familie war deutsch. Zur Ausbildung reiste sie nach Paris. Sie sprach fünf Sprachen – eine polyglotte Weltbürgerin im Zeitalter der Eisenbahnschiene. Das entnazifizierte Deutschland war nach dem Krieg ihr zu Hause - heim ins Reich. Estland, das Land hinter dem undurchdringlichen Vorhang ihre gefühlte Heimat – alles war dort geblieben. Die Reisemodalitäten in den Osten änderten sich erst nach ihrem Tod.

Ich schaute auf meine Finger. War da nicht irgendwo ein Hautfetzchen, das abzumachen wäre? Ich war in Deutschland geboren worden. Von deutschen Eltern, die als Kinder aus dem Osten kamen. Aber ich weiß nicht, wo ich zu Hause bin, obwohl ich zu Hause bin, wo ich zu Hause bin. Orte ließen sich nennen, Herzblut fließt nicht. Langsam füllte sich das BordBistro der Deutschen Bahn. Draußen wurde es hell, Dunst lag über der raureifbedeckten Landschaft. Neben mich setzte sich eine asiatisch wirkende Frau, sie bestellte mit Handzeichen aus der Speisekarte ein Rührei-Frühstück und eine heiße Milch dazu. Ich sah mir die Hände der Frau an. Sie war nicht mehr jung, trug an der linken Hand vier Ringe, nur der Mittelfinger war frei. „Wo sind Sie zu Hause?“, fragte ich meine Tischnachbarin. Aber die Dame zu meiner Linken schaute mich nur mit großen Augen an und ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Die zwei Schweizer am Nebentisch, offensichtlich Geschäftsmänner, sprachen in gemäßigter Lautstärke Schweizerdeutsch – davon verstehe ich nun wiederum nicht viel. Die Franzosen am Stehtisch, ich sehe sie jede Woche im Zug, verdrückten ihr Croissant, wie immer, das ihnen offenkundig nicht besonders zu schmecken schien. Die globalisierte Welt führte dazu, dass die Menschen unterwegs waren, ständig unterwegs. So wie damals? Eisenbahnschienen schreiben Geschichte. Handys versuchen ob ihrer ungeahnten Möglichkeiten Kontakte zu suggerieren, Heimatgefühle zu vermitteln.

Ich begann auf dem Laptop zu schreiben. Wie erzähle ich meine Geschichte so, dass deutlich wird, warum ich meine Heimat lauwarm erlebe und nicht weiß, wo ich mich zu Hause fühle? Das alles macht keinen Sinn, ich verstehe mich selber nicht und kann nicht glauben, dass es eine Verbindung zwischen Raum, Zeit und Resonanz gibt. Diese ständige Bahnfahrerei, 50.000 Schienenkilometer pro Jahr (immer in Deutschland!) und dennoch ist mir der Weg zu mir selber unbekannt. Da hilft auch eine Bahncard 100 nicht weiter. Sie dachte an Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen – wo kamen die eigentlich alle her, wer war wo zu Hause?

Als sie aufstand und zur Toilette ging, wurde ihr klar, dass sie, wie immer, das Unmögliche wollte. Aus dem Stehgreif eine Geschichte schreiben, die ihre Identitätssuche poetisch formuliert... Lara biss die Zähne zusammen und sah nicht in den Spiegel. Laut Personalausweis befand sie sich in ihrem Heimatland. Seit aber die Diskussion über Kriegskinder und Kriegsenkel mit ihrem zerbrechlichen Zugehörigkeitsgefühl entbrannt war, fühlte sie sich ertappt und unwohl. Sie war eine lupenreine Kriegsenkelin. Beide Herkunftsfamilien am Ende des Krieges Flüchtlinge. Gab es für sie in der Ferne etwas, das sich heimisch anfühlte? Hier im Land ihrer Geburt fühlte sie sich zwar erlaubt aber nicht wirklich zugehörig. Wie konnte das zugehen?

Als der Zug hielt, stieg sie schnell aus und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen auf dem Bahnsteig. Die Kälte umfing sie schroff und forderte konkrete Handlungen. Auf der Rolltreppe war kein Durchkommen, sie musste mit ihrem Köfferchen stehen bleiben und warten, bis sie unten ankam. Vor ihr standen zwei farbige Frauen – sie unterhielten sich auf Schwäbisch über Laugenbrezeln. Plötzlich schien ihr die ganze Welt voller Fremder zu sein. Wo sie auch hinsah – überall waren die Menschen auf Reisen. Offensichtlich ging es nicht nur ihr so. Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr musste jeder schnell von A nach B kommen, um pünktlich an einem firmeneigenen Schreibtisch zu sitzen. Noch immer war sie mit der Frage beschäftigt, was ihr Zu-Hause ausmacht.

Und plötzlich machten sich ihre Erinnerungen selbstständig und folgten einer Spur. Ihre Großmutter väterlicherseits hatte auch fliehen müssen. 1945. Haus, Hof und gesellschaftliches Ansehen hinter sich lassend. Lara war einmal dort gewesen. In Tschechien, dort, wo die Deutschen seit Jahrhunderten gelebt hatten und plötzlich meinten, sich über die Landesbevölkerung erheben zu können. Die Landschaft hatte ihr gefallen – Leichtigkeit mit Wurzeln. Die Fahrt mit dem Auto eröffnete ihr einen Blick über Hügel, in die Weite, die Bäume schienen leise zu wispern – ein stilles, blutiges Land. Die Sprache verstand sie nicht, da halfen nur Hände und Füße um sich zu verständigen, die Menschen hatten derb geschnittene Gesichter aber ein freundliches Lächeln auf den Lippen. West und Ost begegnen sich hier im Sudetengebirge.

Sie hatte das Haus gesucht, wollte wissen, wo sich das Leben ihrer Familie über Generationen abgespielt hatte. Sie hatte nur ein altes Foto und wusste den Namen des Ortes. Es war noch immer Sommer gewesen. Sie hatte sich das ganz leicht vorgestellt – aber sie fand das Haus nicht. Die große herrschaftliche Elektrizitäts-Werks-Direktors-Villa. Schließlich war ein Wunder geschehen. Sie hielt das Foto in der Hand und fragte einen Mann am Straßenrand – so gut es irgendwie ging. Der gab keine eindeutigen Antworten, führte sie jedoch zu seinem Haus und bat seine Frau, den Fall zu übernehmen. Da auch diese einer gemeinsamen Sprache nicht mächtig war, wurde die alte Großmutter geholt. Und als sie das Foto sah, sagte sie in reinem Deutsch: „Das Schulz-Haus suchen Sie? Ja, da müssen Sie nur die Straße hinunter gehen und am Fluss links abbiegen. Dann stehen Sie davor!“

Die alte Frau sah das Haus auf dem Foto und verband es mit dem Namen der Bewohner, die es vor siebzig Jahren verlassen hatten – Hals über Kopf. Sie kannte die damaligen Bewohner, meine Großeltern! Lara war von dieser Begebenheit nachhaltig berührt. In der Fremde, sie war das erste Mal in diesem Land und auch nur für ein paar Tage, kannte man ihren Namen – ein Name, der ihre Identität birgt. Die Fremde sprach zu ihr, weil der Klang ihres Namens dort vibriert. Aufgeregt machte sie sich damals auf den Weg. Und ja, da stand sie dann plötzlich vor dem Haus. Es war genau das Haus, das auf dem Foto abgebildet war. Auf dem Bild war jedoch zusätzlich noch die gesamte Familie zu sehen. Von den Menschen lebte nur noch ihr Vater. Sie pflückte eine Rose und versuchte sich mit den Hausbewohnern zu verständigen. Ihr Kopf schaltete sich aus und sie spürte den Schnittpunkt der Geschichte in ihrem Herzen.

Ihr eigener Schreibtisch, er war noch immer abgeräumt und wartete leer und kalt auf ihre Rückkehr, gab ihr unterwegs ein Gefühl von Rückkehrmöglichkeit. Der Gedanke des identitätsschaffenden Namens begleitete sie den ganzen Tag. Am Abend saß sie wieder im BordBistro des ICE nach Karlsruhe. Und sie schrieb: „Einzig der dem Menschen zur Geburt geschenkte Vorname ist ein fester Punkt in dieser Welt, die sich ständig bewegt und verändert. Der Nachname ist ein Fels in der Brandung des gesellschaftlichen Lebens. Der Name bezeichnet im Lauf des Lebens in allen möglichen Welten, sprich Lebens- und Arbeitszusammenhängen ein und dasselbe Subjekt. Durch den Namen wird für das biologische Individuum eine soziale Identität geschaffen.“ Und sie dachte weiter: „Durch den Raum des Zeitlichen ist der Name eine Konstante. Der Eigenname hat Bestand, er ist ein sichtbarer Beleg für die Identität desjenigen, der ihn trägt.“ In der Stadt, in der ich lebe kennt man mich nicht, sagt mein Name nichts. Dort aber, im Osten, wo ich einen Tag meines Lebens verbracht habe, hat mein Name eine Bedeutung. Dort werde ich, als Träger dieses Namens, gesehen und geachtet. Mein Name ist mein Zu-Hause.

Als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkam, das Fensterbrett lag noch immer voller Papiere, hatte sie
die Geschichte im vollbesetzten Abendzug bereits fertig geschrieben und packte ihren Laptop gar nicht mehr aus. Sie nahm ihr Handy und schickte Richard nur noch eine SMS.