Freitag, 4. September 2015

Oh, from that Schulz-Family you are? Das Fotographisch-Artistische Atelier von Carl Schulz in Dorpat (Tartu)

Das Land ist alt und leicht zugleich. Die Landschaft ist grün, sehr grün und lädt zum Verweilen ein. Parkähnlich stehen die Bäume im Verbund mit den Wiesenflächen und überdauern die Zeit. Kleine Flüsse mäandern durch die flachen Weiten und münden in stille Seen. Sehr friedlich geht es zu, obgleich auch hier der Boden mit Blut getränkt ist. Wechselnde Machtverhältnisse, Missionare, Okkupationen, Eroberer, Besatzer – die Esten haben schon viel mitgemacht und sind unendlich froh und stolz, dass sie seit 1991 endlich wieder ein souveräner Staat sind.

Es ist nicht ganz einfach, den alten handgezeichneten deutschen Stadtplan mit dem neuen estnischen Druck - in unterschiedlichem Maßstab - überein zu bringen. Jedes estnische Wort ist schier unaussprechlich und heftet sich nur schwer ins Gedächtnis. Aber schließlich finden sich die gesuchten Straßen und der Ort des Hauses lässt sich rekonstruieren. Das alte Stadtbild – innerlich entstanden durch alte Fotographien, Erzählungen und die eigene Phantasie – weicht vom heutigen ab, aber die Straßen sind, wenn auch mit neuem Namen, geblieben.

Hier also hat das Leben über mehrere Generationen stattgefunden. Dort, wo jetzt ein neuer schwarz-glänzender Klotz steht, hat das eine große Holzhaus samt Atelier tatsächlich bis zu den Bomben des Zweiten Weltkriegs gestanden. (Den anderen Ort neben der Universität kannte ich schon.) Meine Großmutter wurde in der Gartenstraße 3 geboren und hat bis 1939 dort gelebt, meine Urgroßeltern haben in dem Haus ihr Leben gestaltet und mein Ururgroßvater hat es wohl erworben. Mitten im alten Stadtkern – in einer anderen Zeit. Ich laufe mit einem Doppelblick durch die Stadt und fühle mich seltsam aufgehoben.

Auf der schmucklosen Brücke über den Embach, die Sowjetzeit lässt grüßen, steht eine Fotoausstellung mit großen Plakatwänden. Hier gibt es alte Stadtportraits zu sehen, vom diesseitigen und vom jenseitigen Ufer. Und als mein Auge auf die unverständlichen Buchstabenkombinationen fällt, springen mir bekannte Worte entgegen: Carl Schulz. Und immer wieder: Fotograf: Carl Schulz. 1870, 1890, 1999, 1910 und so weiter. Die Bilder stammen aus dem Atelier meiner Familie und zeigen die kleine, prächtige Stadt vor langer Zeit.

Plötzlich ändert sich die Farbe des Lichts für mich. Ich bin keine schlendernde Touristin unter dem nördlichen Sommerhimmel mehr, sondern spüre wie der Gang der Zeit mich erreicht. Ich schaue nicht mehr nur noch, sondern empfinde dabei, dass die Vergangenheit da ist. Trotz der gesteigerten Wachheit breitet sich eine Ruhe aus. Und es kommt noch intensiver. Im Stadtmuseum wird für uns die Kuratorin gerufen, die nicht schlecht staunt, dass wir die Nachfahren der Schulz-Fotografen-Familie in Dorpat sind. Nicht nur, dass sie die Bilder des Ateliers kennt, sondern gerade sie hat die Fotoausstellung kuratiert. Sie nennt uns die Orte, wo wir Relikte finden, rät uns, ins Archiv zu gehen.

Und im Archiv werden wir bereits erwartet. Es gibt alte Unterlagen der Familie zu besichtigen, aber vor allem mit einem jungen Esten in Kontakt zu kommen – er spricht perfekt Deutsch! – der seine Magisterarbeit über die drei Fotografengenerationen Carl, Arthur und Dagmar Schulz schreibt. Als wir in sein Büro kommen öffnet er erst einmal unseren Stammbaum auf seinem Computer – und dieses Mal sind wir es, die nicht schlecht staunen. Er öffnet Dokument um Dokument – Abschlusszeugnisse meiner Großmutter, Fotos, Anzeigen… Er kennt sich aus in unserer Familie – hat aber auch einige Fragen an uns, die sich durch die Unterlagen in den staubigen Archiven nicht erschließen.

Wir sitzen in einem Gespräch, von dem wir nicht annahmen, dass es überhaupt je stattfinden könnte. Da interessiert sich jemand für unsere Familiengeschichte, da sie Teil der fotographischen Stadtgeschichte ist und schreibt seine Magisterarbeit darüber. Was ist in den Jahren 1937-39 geschehen, wohin ist Dagmar Schulz gegangen, als das Atelier verkauft wurde, hat sie weiterhin selbstständig gearbeitet? In Deutschland gibt es eine „Grüne Kiste“ – darin liegen Aufzeichnungen, Fotos, Pläne, Schriftstücke, Gutachten, Beglaubigungen… Hätten wir sie nur hier!

Die familiären Wurzeln wurden durch den Wirbel des Zeiten Weltkrieges im Baltikum gekappt. Ich habe bislang mit Luftwurzeln gelebt und mich immer wieder gefragt, in welche Richtung ich sie neigen solle. Nun aber können Erd- und Luftwurzeln zusammen kommen und, zumindest geistig, wieder einen gemeinsamen Festpunkt bilden. Die Recherche in Dorpat geht weiter (die sich auch auf die Filialen in Riga, Libau und Majorenhof erweitern ließe) – gespannt erwarten wir die Arbeit über das Fotographisch-Artistische Atelier von Carl Schulz, das über drei Generationen von meiner Familie geführt wurde (yes, I belong to this Schulz-Family!), bis Hitler und Stalin einen Pakt geschlossen haben, der die alte Zeit brutal in eine neue verwandelt hat.